Do it yourself: Abschied von einem abgetriebenem Kind
EINLEITUNG
Wenn du selber betroffen bist, dann spürst du: Das Thema Abtreibung ist in unserer Kultur mit Schuld und Scham behaftet.
Dabei ist es offensichtlich: Eine Schwangerschaft kann im Leben einer Frau extreme Veränderungen auslösen: Verlust des Arbeitsplatzes und damit der finanziellen Unabhängigkeit, Abhängigkeit von dem Vater des Kindes. Sie hat daher das Recht, sich gegen das Kind zu entscheiden, das heisst, es abzutreiben – ohne Schuldgefühle.
Für eine Frau ist Abtreibung immer ein sehr schmerzlicher Schritt. Aber es gibt keinen Grund für Schuldgefühle. Wie können wir das wissen? Wenn in einer Aufstellung eine Vertreter*in für das abgetriebene Kind aufgestellt wird, dann spürt diese niemals Vorwürfe oder Groll. Daraus schliesse ich: Es fühlt sich mit seinem Schicksal einverstanden. Aber es tut ihm weh zu sehen, dass die Mutter seinetwegen unter Schuldgefühlen leidet.
Der Abschied von einem geliebten Wesen ist immer schmerzlich, umso mehr, wenn es sich um ein eigenes Kind handelt und wenn man selber sich zur Abtreibung entschieden hat. Aber dieser Abschied ist für die ganze Familie so wichtig: für die Mutter, für den Partner. Wichtig auch für die lebenden Kinder, die sonst dazu neigen, sich mit dem abgetriebenen Geschwister zu identifizieren.
Eltern verlieren durch den Verlust eines Kindes oft die emotionale Nähe, wenn sie es nicht gemeinsam verabschieden. Das gilt auch und besonders für ein abgetriebenes Kind! Daher empfinde ich es als übergriffig und unangemessen, wenn andere – meist Männer, oder auch Therapeut*innen – das Abschied-Nehmen dadurch verhindern, dass sie von Mord reden und dadurch bei der Frau zusätzlich massive Schuldgefühle auslösen.
Damit du dich von deinem abgetriebenen Kind verabschieden kannst, scheint es ausserdem erforderlich, zuvor dies Kind zu begrüssen, auch wenn das im Falle einer Abtreibung unangemessen, oder „verboten” erscheinen mag.
Bist du bereit, dich in dieser Weise von deinem abgetriebenen Kind zu verabschieden?
VORBEREITUNG
Du brauchst dazu einen Stuhl und ein schönes Kissen (repräsentiert das abgetriebene Kind) und einen Schal (repräsentiert die Grenze). Eine Assistent*in, die dich bei dem Prozess begleitet, wäre hilfreich, ist aber nicht zwingend erforderlich.
1. Stelle den Stuhl mit dem Kissen vor dich und sage zu deinem Kind: „Du bist mein Kind und du gehörst zu meinem Leben. Ich habe mich damals gegen dich entschieden – und ich stehe dazu!”
Auch wenn z.B. ein Partner oder die eigenen Eltern zur Abtreibung drängen, für das Gelingen des Abschieds ist es entscheidend, dass Du die Verantwortung für Deine Entscheidungen übernimmst, indem du dazu stehst. Das bedeutet, dass Du auch zu den Konsequenzen dieser Entscheidung steht: Du kannst dies Wesen nicht ins Leben begleiten. Du wirst dies Kind nie wachsen sehen. Das ist sehr schmerzlich. Und diesen Schmerz gilt es zu sehen und anzunehmen.
2. Bist du mit ihm „identifiziert”? Um das zu überprüfen, lege den Schal zwischen dich und dein Kind, und spüre, ob es sich „wie abgeschnitten” anfühlt. Dann tausche mit dem Kind den Platz. Kennst du dich da aus? Kennst du den Gedanken, du wärest lieber an seiner Stelle gestorben? Das wären Hinweise auf eine Identifizierung, auf eine symbiotische Verschmelzung mit deinem Kind.
Um deinen Platz „im Leben” wieder zu finden, um für den Partner und (eventuell) deine Kinder ganz „da sein” zu können, ist es wichtig, dass du diese Identifizierung löst, indem du zurück auf deinen Platz gehst, und zu dem Kind sagst: „Das ist dein Platz und dein Schicksal. Du bist du und ich bin ich. Du bist deinen Weg gegangen und ich gehe meinen Weg.”
3. Begrüssung. Um sich von dem Kind verabschieden zu können, musst du es zunächst begrüssen – eigentlich eine Binsenweisheit, die jedoch in diesem Zusammenhang merkwürdigerweise meist vergessen wird.
„Ich achte es, dass du zu mir kommen wolltest. Ich konnte mich damals nicht über dich freuen, ich konnte dich nicht begrüssen. Das hat nichts mit dir zu tun, und – das hast du auch nicht verdient!”
Und dann stelle dir vor, dass du das ungeborene Wesen (repräsentiert durch das Kissen) liebevoll in die Arme nimmst, und zu ihm die Liebe fliessen lässt, die du – trotz allem – für dies Kind gehabt hast. Solange, bis es gut ist.
4. Abschied. Für das Kind ist es schon lange vorbei, und es könnte schon lange seinen Frieden gefunden haben, wenn Du es nicht durch DEINE Schuldgefühle festhalten würdest! Das Kind kann nicht gehen – und Du kannst dich nicht wieder dem Leben zuwenden, da verlieren beide! Damit es Euch beiden besser geht, ist folgender Schritt erforderlich:
„Für dich ist es schon lange vorbei! Und ich muss dich nicht mehr durch meine Schuldgefühle festhalten! Du bist jetzt frei, dahin zu gehen, wo du deinen Frieden findest!”
Danach legst du das Kind zurück auf den Stuhl, und stellst dir vor, dass es sich entfernt, um „dahin zu gehen, wo es keinen Schmerz gibt und keine Schuld, nur Liebe und Licht!”
Dieser Abschiedsprozess löst sehr viel Schmerz aus. Das ist „normal”, Abschied tut einfach weh. Das ist ein gesunder Schmerz. Er zeigt an, dass du dich bisher von diesem Kind nicht wirklich verabschiedet hast – trotz eventueller Bemühungen. Wenn Du durch diesen Schmerz hindurch gehst, dann öffnet sich für dich eine Türe zum „Hier und Jetzt”. Danach kann ein tiefer Friede entstehen.
RÜCKMELDUNG EINER KLIENTIN:
Ich danke für diese liebevolle und einfühlsame Führung. Bisher habe ich mich nur mit Schuldgefühlen und Selbstbestrafung herum geschlagen. Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass auch mein Schmerz über den schweren Verlust Platz bekommen hat. Damit ist es mir gelungen meine Kinder ( 2 Abtreibungen 1 Fehlgeburt) ziehen zu lassen. Ich habe, so wie es immer wieder verwechselt wird, Verantwortung übernehmen mit Bestrafung verwechselt. So saß ich über Jahre in der Büßerfalle und habe, ohne es zu wissen, durch Schuldgefühle die Kinder an mich gebunden. Ich hatte in der letzten Zeit unfassbare Sehnsucht und einen starken Kinderwunsch. Ich hatte Schmerzen in den Brüsten entwickelt und verstärkte Blutungen. Das Thema war reif.
Es geht mir deutlich besser, ich darf glücklich sein und ich bin liebevoll. Vor allem auch eine liebevolle Mutter.
Kommentar zur Dynamik
Diese letzten zwei Sätze der Klientin sind sehr bemerkenswert. Schuldgefühle können dazu führen, dass die Liebe der Mutter zu den lebenden Kindern blockiert wird, so als müsse sie sich gegenüber dem abgetriebenen Kind schuldig fühlen, wenn sie ihre lebenden Kinder liebt. Durch Schuldgefühle bleibt sie gebunden – und hält das abgetriebene Kind in ihrem „eigenen Raum” fest. Diese Dynamik scheint auch dazu beizutragen, dass ein lebendes Kind auf der Suche nach der nicht erreichbaren Mutter im Raum der Mutter diesem – totgeschwiegenen – Geschwister „begegnet”, und sich mit ihm identifiziert – vielleicht, um für die Mutter genauso „wichtig” zu sein?
Wenn es der Mutter gelingt, die Entscheidung gegen ein Kind, und den Abschied von ihm als schmerzlich, aber im Grunde als etwas Natürliches zu sehen, dann ist das für sie selbst – und für die ganze Familie – sehr entlastend.
GRUNDGESETZ DES LEBENS?
Hier wird etwas deutlich, das man als „das Grundgesetz des Lebens” bezeichnen könnte: Alles ist in ständiger Veränderung. Wenn Geben und Nehmen gelingt, wenn Verabschieden und Begegnen möglich ist, dann ist im Fluss.
Durch besitzergreifende „Liebe”, aber auch durch Schuldgefühle oder durch Vorwürfe, halten wir den anderen fest. Und wir sind gleichzeitig selbst gebunden, das heisst, wir sind nicht frei für den Fluss des Lebens.
Daher ist der Verzicht auf eine Liebe, die besitzen möchte, daher ist Versöhnung und die Bereitschaft zum Abschied-Nehmen die Voraussetzung für unsere Teilhabe am Fluss des Lebens.
Ero Langlotz 7.6.2017
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