Anliegen
Christa (Name geändert), eine 40-jährige, jedoch jünger wirkende schlanke, große Frau wirkt gehetzt, panisch, wie verfolgt. Sie spricht schnell, leise. Sie kommt aus der DDR, sie hatte immer nur kurze Jobs, fühlt sich überfordert, ausgenützt, gerät immer wieder in ein Burnout.
Vorgeschichte
Sie ist unverheiratet, hat keine Kinder, fühlt sich auch in ihrer Beziehung benützt.
Sie war in klinischer Behandlung, dort wurde eine Persönlichkeitsstörung (Borderline-Störung) mit Bulimie diagnostiziert.
In mehreren Aufstellungen hatte sie Aspekte ihrer sehr belasteten Familie aufgestellt und geklärt: sie hat von beiden beiden Eltern, die selber traumatisiert waren, Gewalt erlebt. Sie hat einen Zwilling, wahrscheinlich sogar zwei Drillinge verloren.
Kürzlich hat sie eine neue Arbeit begonnen, 300 km entfernt von ihrem Wohnsitz. Sie fühlt sich schon wieder ausgenützt, überfordert, kauft sich Kiloweise Schokolade…
Das möchte sie durch eine Aufstellung klären.
Da sie schon so viele Aufstellungen gemacht hat, schlage ich eine sogenannte „verdeckte“ Aufstellung vor. Sie wählt Repräsentanten aus für das Thema „Berufliche Überforderung“, für das, „worum es eigentlich geht“, für sich („Focus“) und für drei Selbst-Anteile: das Erwachsene, das Kindliche und das Körper-Selbst.
Aufstellung
Das Thema und den „Focus“ stellt sie in zwei Meter Abstand gegenüber, „das, worum es eigentlich geht“ stellt sie eineinhalb Meter hinter den Focus. Das erwachsene Selbst stellt sie rechts neben sich, das kindliche Selbst ausserhalb des Stuhlkreises rechts von sich, das Körper-Selbst etwa 4 Meter links von sich entfernt.
Das erwachsene Selbst fühlt sich neben ihr nicht wohl, stellt sich zum kindlichen Selbst. Auch das Körper-Selbst geht zu den anderen Selbst-Anteilen.
Der Focus – ihre Stellvertreterin wendet sich dem zu, „worum es eigentlich geht“, es spürt Beklemmungen. Die Repräsentantin ihres kindlichen Selbst bekommt einen heftigen Husten, immer wieder wird sie von würgenden Hustenanfällen gequält.
Die Repräsentantin von „das worum es eigentlich geht“ fühlt sich emotionslos, unberührt, eher wie eine Institution. Offensichtlich handelt es sich um die DDR!
Der „Focus“ stellt sich auf den Platz der DDR und überprüft, wie es ihm dort geht. Er fühlt sich eingeengt, es wird ihm immer heisser.
Das „kindliche Selbst“ bekommt einen Hustenanfall.
C. übernimmt vom Focus ihren Platz. Sie kennt das Gefühl, so als wäre das immer noch ihr Platz. Sie ist immer noch unbewusst mit der DDR identifiziert!
Sie entschliesst sich, den Platz der DDR zu verlassen.
Lösen der Identifizierung
Durch Lösungssätze vollzieht sie die innere Abgrenzung: DU bist Du und ich bin ich, ich bin nicht ein Teil von Dir, und ich bin vollständig auch ohne Dich!
Symbolisiert durch einen schweren Stein gibt sie der DDR das zurück, was sie an einengenden Vorschriften und Verboten übernommen und verinnerlicht hat: Sich anpassen, Ducken, Schweigen, Hinunterschlucken.
Diese beiden Schritte wirken befreiend. Auch den Selbstanteilen geht es besser.
Offenbar hat sie dem System der DDR ihren inneren Raum, ihre Aufmerksamkeit, ihre Energie gegeben, die sie gerne zurück haben möchte. Die DDR scheint dafür keine geeignete Quelle zu sein. Sie wendet sich ihrem erwachsenen Selbst zu, „das sich frei, unbeschwert fühlen kann und sagen darf, was es denkt“.
Erste Annäherung an die Selbstanteile
Aber das erwachsene Selbst zieht sich zurück, es fühlt sich nicht zugehörig, schwach.
So wendet sie sich erst dem kindlichen Selbst zu, das immer wieder von Hustenanfällen gequält wird. Zögernd und unsicher spricht sie die Sätze: „Ich hab dich alleine gelassen, ich konnte dich nicht schützen. Jetzt bin ich erwachsen und frei, ich lass dich nicht mehr alleine, ich lasse nie mehr zu, dass du verletzt wirst.“ Sie muss die Sätze einige Male wiederholen und abwandeln, bis das kindliche Selbst ihr traut und sich von ihr in den Arm nehmen lässt.
Auch zum Körperselbst fällt die Annäherung nicht so leicht.
Das erwachsene Selbst zieht sich vor ihr zurück. Es zeigt ihr provozierend, dass es vor dem „Thema“ und vor der DDR überhaupt keine Angst hat!
Das ist für C. beunruhigend. Offenbar war es früher gefährlich, sich mit diesem Teil zu zeigen, deshalb musste sie ihn völlig unterdrücken.
Vielleicht ist auch ihr „Innerer Raum“ noch so von der DDR „besetzt“, sodass sie buchstäblich keinen Platz hat für das erwachsene, freie Selbst?
Abgrenzung
Sie ist bereit, ihren inneren Raum, ihre Grenze, symbolisiert durch einen Schal, gegenüber der DDR zu schützen. Als dies Repräsentantin der DDR sich ihr nähert, kommt sie ihr entgegen und hält sie auf Distanz. Zunächst zögernd, dann von Mal zu Mal kraftvoller und entschiedener! Es geht buchstäblich um Leben und Tod!
Zweite Annäherung an die Selbstanteile
Jetzt ist ihr erwachsenes Selbst bereit für eine Annäherung. C. wendet sich ihm zu: Ich musste dich lange unterdrücken, es war einfach zu gefährlich. Jetzt bin ich frei, jetzt spüre ich erst, wie sehr ich dich brauche.
Und – statt mit der DDR und ihren Regeln – kann sie jetzt mit ihrem freien Selbst verschmelzen!
Nun spürt sie, wie es sich anfühlt, wenn sie sich mit allen drei Selbstanteilen vereinigt. Dem kindlichen Selbst geht es erst jetzt – geschützt vom erwachsenen Selbst – wirklich gut. C. fühlt sich jetzt ruhig, entspannt, vollständig.
C. lässt das Schwere, das nicht mehr zu ihr gehört, hinter sich, und das, was sie selber jetzt ist, nimmt sie mit. Sie geht drei Schritte vorwärts, in einen neuen Lebensabschnitt!
Kommentar
Dies Fallbeispiel zeigt eindrucksvoll,
- wie der Terror eines Totalitären Systems bei belasteten Menschen eine Abspaltungstendenz noch verstärken kann. Und
- dass eine “verdeckte Aufstellung” hervorragend geeignet ist, auch solche kollektiven Faktoren sichtbar und bewusst zu machen, sodass die Selbst-Entfremdung
- mit Hilfe der “systemischen Selbst-Integration” gelöst werden kann.