Gregor, ein 68 jähriger, rüstiger Tiroler, kommt auf Empfehlung seiner Nichte zum Psychiater nach München.
Im Februar 2009 habe er einen (leichten) Herzinfarkt gehabt.
Familiengeschichte
Gregor stammt von einem alten Bauernhof, er ist der 4. von 6 Kindern. Mit dem Vater sei er ein Herz und eine Seele gewesen. Er sei Bankangestellter geworden, habe aber selbstverständlich – wie die anderen Geschwister auch – bei der Ernte auf dem Hof ausgeholfen. Mit seiner Frau lebe er 40 Jahre zusammen, es habe nie ein böses Wort gegeben.
Sie haben drei Kinder, die beiden grossen sind versorgt. Der jüngste, Alois, ein erfolgreicher Bankangestellter wie sein Vater, hat eine liebe Freundin, die auch einen Baugrund hätte, 10 Km entfernt. Aber Gregor möchte ihn auch versorgt und in seiner Nähe wissen, hat ihm selbstlos angeboten, in seinem schönen Haus anzubauen.
Der Sohn Alois habe das gerne aufgegriffen, habe gleich einen Plan gemacht und vorsichtig angefragt, ob das Schlafzimmer und die Stiege verändert werden könnten. Gregor zerreisst es. Er kann weder ja noch nein sagen. Vor 40 Jahren hat er das Haus selbst mitgebaut, jetzt merkt er, wie sehr er – bei aller Bescheidenheit und Selbstlosigkeit – an diesem Haus hängt. Er ist hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, alles für den Sohn zu tun und sein Eigenes nicht zu verlieren.
Er bekommt einen Herzinfarkt.
Es zerreisst ihm buchstäblich das Herz.
Meine Vermutung
Aufgewachsen in der bäuerlichen Tradition hat Gregor gelernt, sein Eigenes zurückzustellen, sich nach den Bedürfnissen der Anderen zu orientieren. Sein Sohn Alois stammt schon aus der nächsten Generation. Er spürt seine Bedürfnisse und kann sie äussern, sogar wenn sie mit denen des Vaters nicht konform sind.
Meine Überlegung: vielleicht kann Gregor in einer Systemaufstellung erkennen, dass er sich schwer abgrenzen, sein Eigenes vertreten kann. Dann kann er es sich vielleicht selbst „erlauben“, sich abzugrenzen, einen inneren Raum zu entwickeln. Das könnte es ihm ermöglichen, auch im Gegenüber zu Alois seine eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu vertreten, ohne Schuldgefühle.
Beziehungsklärung zum Sohn
Mit einem Stuhl als Repräsentanten stellt er seinen Sohn auf und sich schräg daneben, in ca. 1 Meter Entfernung. Ich lege einen Schal zwischen ihn und den Sohn, als Symbol dafür, dass sie beide jeder für sich vollständig ist. Das fühlt sich für ihn fremd und ungewohnt an.
Dann soll er eine Stuhl mit rotem Kissen aufstellen als Repräsentant für sein „Selbst“, „den Teil von dir, der sich frei und unbeschwert fühlt, der auch nein sagen kann, ohne Schuldgefühle“!
Gregor schaut mich verständnislos an.
„Auch du hast diesen Selbstanteil, er gehört zu deiner „Grundausstattung“. Du kannst ihn nicht verlieren, aber vielleicht bist du nicht mit ihm verbunden?“
Gregor stellt sein „Selbst“ weit weg in die Ecke.
„Kennst du überhaupt diesen Teil von Dir?“
Gregor schüttelt verlegen den Kopf.
Ich vermute: „Auf eurem Bauernhof habt ihr alle zusammengehalten, da hat sich jeder für das Gemeinsame zur Verfügung gestellt, das Eigene zurückgestellt! Nur so konntet ihr über Jahrhunderte den Hof halten?“
Gregor nickt, er lächelt.
„Dein Sohn ist anders, er weiss, was er will und sagt das auch! Er muss anders sein, um in der heutigen Zeit zu überleben.“
Gregor blickt nachdenklich.
„Aber irgendwie hast du damit nicht gerechnet! Das hat dich enttäuscht? Du hast vielleicht erwartet, er sei so selbstlos und bescheiden wie du?“
Gregor nickt.
„Du hast auch so einen Selbst-Teil, der weiss was er will und das auch sagen darf. Und wenn es dir recht ist, können wir sehen, wie du dich mit diesem Teil von dir verbinden kannst!“
Gregor nickt, fragend und etwas ungläubig.
Als erstes stellt er sich auf den Platz seines Sohnes. Ja er kann sich in seinen Sohn hineinversetzen, versucht zu spüren, was der Sohn wünscht und möchte dem entsprechen.
„Aber dann kannst du gar nicht so bei dir selbst sein, bei deinen eigenen Wünschen?!“
???
„Willst du dich mal auf deinen eigenen Platz stellen?“
Gregor stellt sich auf seinen Platz, dem Sohn gegenüber.
„Kannst du zu ihm sagen: Du bist Du, ich bin ich, Du lebst dein Leben, ich lebe mein Leben?“
Gregor zögert, schaut etwas gequält. Offensichtlich ist ihm das unbehaglich.
„Probier mal den Satz: Du bist ich und ich bin Du und du lebst mein Leben.“
Das geht ihm tatsächlich leicht von den Lippen, aber dann muss er lachen, weil das natürlich nicht stimmt.
„Vielleicht geht’s dir wie dem englischen Autofahrer auf dem Kontinent, wenn er hier plötzlich rechts fahren soll, fühlt sich das falsch an?“
Gregor nickt schmunzelnd.
„Aber wenn er seinem Gefühl folgen würde, dann krachts!
Wenn er nicht will, das es kracht, muss er seinem „Kopf“ folgen, auch wenn es sich falsch anfühlt!“
Gregor scheint überzeugt und sagt mit Kraft zum Sohn: Du bist du und ich bin ich! Du lebst dein Leben und ich lebe meines!
„Dazu gehört aber auch, dass du deine Grenze schützt, dass du nein sagen kannst.“
Gregor blickt mich an, nachdenklich. „Ich hab noch nie gut nein sagen können!“
„Du kannst es lernen! Du musst es einfach tun! Auch wenn es sich zunächst falsch anfühlt!“
Abgrenzungsübung
Ich teste, ob Gregor seine Grenze schützt indem ich, als Repräsentant von Alois, langsam auf ihn zugehe. Er darf seine Grenze schützen, indem er mich zurückschiebt, noch bevor ich seine Grenze berühre.
Gregor wartet, bis ich schon fast den Schal berühre und hält mich dann mit Kraft zurück.
„Du musst nicht warten, bis ich schon fast über die Grenze bin. Eine zehntel Sekunde, bevor ich starte, darfst du schon auf mich losgehen und mich zurückschieben.“
Wieder ist es ihm unbehaglich. „Ich will niemanden verletzen!“
„Das ist nicht verletzend, das ist der ganz gesund Selbstschutzreflex! Da kannst du deine Aggression auf gesunde Weise heraus lassen. Wenn du dir das verbietest, staut sie sich und richtet sich gegen dich selbst, zerreisst dir das Herz!“
Das triff! Er strahlt. Und wie ich wieder auf ihn zugehe, läuft er gleich auf mich zu, schiebt mich bis zur Wand zurück!
Offensichtlich gefällt ihm das. Und er wiederholt es gerne noch zwei mal.
Verbindung mit dem Selbst
Magst du jetzt einmal Verbindung aufnehmen mit dem Teil von dir, der weiss was er will und der nein sagen kann?
Gregor hält einen Augenblick inne, dann geht er auf sein Selbst zu, dass sich noch in der Ecke befindet, schaut das rote Kissen an, nimmt es vorsichtig in die Hand.
„Du darfst spüren, wie es ist wenn du dich mit dir selbst verbindest!“
Gregor nimmt vorsichtig das Kissen an die Brust, strahlt und drückt es fest an sich!
„Wenn du deine Grenze schützt, dann kannst du mit deinem Selbst so verbunden bleiben!“
Gregor richtet sich auf, er strahlt, so als dürfe er erst jetzt über seine Kraft verfügen, für sich selber. „Der Alois hat immer gesagt, ich solle sagen, was ich will. Der wird sich jetzt wundern!“
Kommentar
Konflikt der Generationen
Gregor ist in der Tradition der Tiroler Bauern aufgewachsen. Der Hof, die Landwirtschaft war die Existenzgrundlage der Familie, seit Generationen. Dem haben alle Familienmitglieder ihre eigenen Bedürfnisse untergeordnet. Sie lebten in einem Kollektiv, mit dem sie sich identifizierten, das ihnen Selbstwert und Selbstachtung gab. Das half ihnen, den Verzicht auf eigene Bedürfnisse zu kompensieren.
Sein Sohn Alois ist nicht mehr auf dem Hof aufgewachsen, nicht mehr von dieser Tradition geprägt. Er hat gelernt, eigene Wünsche zu spüren und zu vertreten. Der Konflikt ist unvermeidbar.
Lösung mit Hilfe des Symbiosemodells
Die Phänomene: Zurückstellen eigener Wünsche verbunden mit einer Tendenz, sich den Bedürfnissen anderer (über-)anzupassen, kennen wir vom Symbiose-Komplex. Als tiefere, unbewusste Ursache findet sich immer wieder ein „unbewusstes Abgrenzungsverbot“.
Die bäuerliche Tradition kann als symbiotisches Kollektiv verstanden werden.
Der Aufstellungsverlauf zeigt: auch im Falle einer bäuerlich geprägten kollektiven Symbiose sind die Lösungsstrategien bei Symbiose wirksam:
- Bewusst machen, dass die eigene Abgrenzung, der eigene Raum fehlt, der es erst ermöglicht, seine Bedürfnisse auch im Kontakt zum Gegenüber wahrzunehmen und „ins Spiel zu bringen“.
- Und die Erfahrung zu vermitteln, dass es auch mit 68 Jahren und nach einem Herzinfarkt noch möglich ist, durch das „Abgrenzungsritual“ diese Grenze zu installieren, das „unbewusste Abgrenzungsverbot“ zu lösen und sich mit den unterdrückten eigenen Bedürfnissen zu verbinden.
Grenze
Anpassung an die Bedürfnisse anderer, Zurückstellen eigener Wünsche wird oft als Liebe ausgegeben. Grenze und Abgrenzung wird dann als verletzend, lieblos, als Kontakt erschwerend (miss-)verstanden. Dies Missverständnis hält das „unbewusste Abgrenzungsverbot“ und damit das Symbiosemuster aufrecht. Dabei ist Kontakt nur durch flexible Grenze möglich! Nur wer im Kontakt mit seinem Gegenüber „bei sich selbst“ bleiben kann, kann dem Anderen begegnen.
Im Unterschied dazu das Dilemma der Symbiose: die Betroffenen verlieren in der Überanpassung sich selbst. Um sich wieder zu spüren, müssen sie auf Distanz gehen, verlieren dadurch ihr Gegenüber. Nicht selten pendeln sie zwischen beiden Extremen, zwischen Überanpassung und Überabgrenung hin und her (Nähe-Distanzproblem). Sie haben nur die Möglichkeit, sich durch Distanz abzugrenzen, weil ihnen die „innere Abgrenzung“ fehlt.
Aggressionsstau, Stress und psychosomatische (kardiovaskuläre) Erkrankung
Dies Beispiel zeigt auch, wie das Symbiosemuster Stress verursacht. Ohne Abgrenzung gelingt es nicht, die beiden gegenläufigen Grundbedürfnisse: nach Bindung und nach Freiheit mit einander zu verbinden. Anders gesagt: wenn das (gesunde) aggressive Potential nicht auf konstruktive Weise in der Abgrenzung eingesetzt werden kann, staut es sich und sucht sich andere „Kanäle“, z.B. führt es über eine Erhöhung des Blutdrucks zu Herz-Kreislauferkrankungen.
Systemaufstellung scheint ein sehr geeignetes Verfahren zu sein, um diese Zusammenhänge bewusst zu machen, um auch Generationenkonflikte nachhaltig zu lösen.
Literatur:
Systemische Aufstellungspraxis
2006 Heft 2:
- “Maligne Symbiose und Autonomiestörung als entscheidende Ursache von Stress, Krankheit und destruktivem Verhalten (Teil 1)” (S. 46)
2006 Heft 3:
- “Maligne Symbiose und Autonomiestörung als entscheidende Ursache von Stress, Krankheit und destruktivem Verhalten (Teil 2)” (S. 28)