Erich, ein 35-jähriger Mann, berichtet, dass es ihm seit seiner Kindheit an Lebendigkeit fehle. Alles sei so ernst, mühsam und schwer. Mit der Mutter sei es ihm immer schlecht gegangen, deshalb lebe er jetzt 500 km entfernt von ihr in einem anderen Land.
Kürzlich, angestossen durch therapeutische Arbeit mit dem „kindlichen Selbst”, habe er sich an eine entscheidende Begebenheit aus seiner Kindheit erinnert.
Bis zum sechsten Lebensjahr habe er bei der Großmutter in einem Bergdorf gelebt, dort habe er sich frei und glücklich gefühlt. Wegen seines grossen Bewegungsdranges habe man ihn den „Wirbelsturm” genannt.
Dann kam er zu seiner Mutter zurück, die unglücklich, streng und überbesorgt war. Er durfte nicht zum spielen auf die Strasse. Und als er sie neckte, damit sie mit ihm spiele, drohte sie ihm damit, sie würde sterben, wenn er sie nicht in Ruhe lasse. Als er dennoch nicht nachliess, fiel sie um, hörte auf zu atmen, wurde ganz blass. Erst glaubte er, sie verstelle sich nur, doch dann bekam er grosse Angst, fühlte sich schuldig, so als hätte er ihren Tod verursacht.
Aufstellungsbild
Erich stellt auf: sich in etwa 2 m Abstand schräg gegenüber seiner Mutter, sein „kindliches Selbst” – der lebendige, unangepasste Teil – steht auf der anderen Seite der Mutter, entfernt von ihm. Sein „erwachsenes” Selbst – der Teil, der gegenüber der Mutter eine gesunde Distanz hat, der sich abgrenzen kann, ohne Schuldgefühle – steht in drei Meter Entfernung, wendet ihm den Rücken zu.
Die Mutter spürt wenig Verbindung.
Die beiden Selbstanteile spüren ebenfalls keine Verbindung zu Erich, sie fühlen sich unwohl an ihrem Platz und suchen sich einen „besseren” Platz ausserhalb des Stuhlkreises.
Erich erzählt, dass 10 von Mutters Geschwister früh gestorben sind.
Der Leiter stellt Repräsentanten für 10 verstorbene Geschwister in Blickrichtung der Mutter. Die Mutter stellt sich zwischen sie, dort fühlt sie sich zugehörig.
Der Leiter: sie befindet sich auf dem „Totenschiff” ihrer verstorbenen Geschwister. Wenn du ihr nahe sein möchtest, musst du zu ihr auf dieses Totenschiff gehen. Für den „Wirbelsturm” ist sie da nicht erreichbar.
Aufstellungsverlauf
Die Mutter und ihre 10 verstorbenen Geschwister drehen sich um, blicken auf Erich.
Du hast mich so verletzt!
Der Leiter: gibt es Vorwurf oder Mitleid gegenüber der Mutter?
„Mitleid, aber auch Vorwurf, weil sie mir solche Angst und Schuldgefühle gemacht hat.”
Hast du sie dafür gehasst?
Erich nickt, schuldbewusst.
Leiter: Für ein Kind, hilflos und abhängig, ist Hass bisweilen die einzige mögliche Reaktion, sich zu schützen, auch wenn es sich dann dafür selber ablehnt. Diese Abspaltung ist Folge der Traumatisierung und ist nur schwer zu lösen. Um dich mit diesem abgespaltenen kindlichen Anteil zu verbinden, ist es wichtig, dass du heute der Mutter gegenüber zu deinen damaligen Gefühlen stehen kannst!
Erich nickt: „Mutter, du hast mich so verletzt! Ich habe dich dafür gehasst und ich stehe dazu!”
„Am falschen Platz”
Prüfen und Lösen der Identifikationen
Als erstes stellt sich Erich neben die Mutter und prüft, ob er sich auf dem Platz eines von Mutters verstorbenen Brüdern „zuhause” fühlt. Er kennt den Platz, das Gefühl von Nähe verbunden mit Trauer und wenig Lebendigkeit. Und er entscheidet sich, dort auszusteigen.
„Mutter, ich bin nicht dein verstorbener Bruder, ich bin dein sehr lebendiger Sohn!”
Auch den Platz an Mutters Seite, den der Vater nicht einnehmen konnte, kennt er und entschliesst sich, auszusteigen.
Schließlich stellt er sich auf Mutters Platz. Auch diesen Platz kennt er, so als sei er für Mutters Leben verantwortlich, als müsse er auf Mutters „Boot” Lotse sein. Er sieht, dass es nicht sein Platz ist und steigt aus.
„Mutter, das ist dein Platz, dein Schicksal, du bist du, ich bin ich. Du lebst dein Leben und ich lebe meines!”
Der Satz fällt ihm zunächst schwer – so als sei es seine Lebensaufgabe, für die Mutter da zu sein, als mache er sich schuldig, wenn er sich dieser Aufgabe entziehe. Er wiederholt den Satz, diesmal mit mehr Überzeugung.
Das übernommene Fremde
Rückgaberitual
Der Leiter reicht Erich einen schweren Stein, der Mutters Schicksal, ihre Trauer, ihre Zerrissenheit, ihre Schuld symbolisiert. Kann es sein, dass du immer noch etwas trägst, was nicht zu dir, sondern zu deiner Mutter gehört?
Erich nickt, er möchte es der Mutter zurück geben: Das, was ich für dich getragen habe, was aber zu dir gehört, lasse ich ab heute bei dir.
Aber er zögert wieder, so als sei es verboten.
Im zweiten Anlauf gelingt es ihm, den Stein mit Überzeugung zurück zu geben.
Die Mutter kann sagen: „Erich das gehört zu mir. Ich möchte gar nicht, dass du das trägst. Ich merke, dass ich als Mutter nicht für dich da sein konnte, dass ich mich an deiner Lebendigkeit nicht freuen konnte. Schade, es hat überhaupt nichts mit dir zu tun!”
Erich atmet auf, erleichtert, sein Gesicht entspannt sich.
Das verlorene Eigene
Zurücknehmen der eigenen Energie
Der Leiter: Offensichtlich hast du deiner Mutter ganz viel Raum, viel Aufmerksamkeit, viel von deiner Energie gegeben. Sie kann mit der Erich-Energie nichts anfangen. Aber du könntest diese Energie gut brauchen!
Erich nickt.
Du könntest dir diese Energie von deinem Selbst zurückgeben lassen, es hat diese Energie für dich gespeichert!
Seine Selbstanteile haben aufmerksam den bisherigen Prozess verfolgt, haben sich ihm wieder genähert, so als spürten sie jetzt eine Chance, mit ihm verbunden zu sein.
Erich nimmt Verbindung auf mit seinem erwachsenen Selbst, lässt sich von ihm symbolisch seine eigene Energie zurück geben. Nun fühlt er sich anders, freier.
Verbindung mit den Selbstanteilen
Nun kann sich Erich mit seinem erwachsenen Selbst verbinden. Zuvor gilt es noch zu klären: hier ist nicht der Teil gemeint, der schon viel zu früh „vernünftig und erwachsen” sein musste, sondern der freie, unbeschwerte Erich.
Statt dich mit deiner Mutter zu identifizieren, könntest du dich mit dem freien Erich identifizieren!
Erich geht auf sein freies Selbst zu, nach einigem Zögern kann er spüren, wie es sich anfühlt, mit sich selber eins zu sein.
Als nächstes wendet sich Erich dem kindlichen Selbst zu, das er offensichtlich völlig abgespalten hatte – so als sei es für die Mutter, und damit auch für ihn selber lebensgefährlich!
Er kann zu ihm sagen: „du bist ganz unschuldig! Du bist ganz ungefährlich! Ich mag dich so wie du bist! Bei mir darfst du der Wirbelsturm sein! Und ich lasse nie mehr zu, dass du verboten, beschuldigt oder verleumdet wirst!”
Der Repräsentant des kindlichen Selbst – der sich zunächst abgeschoben, unerwünscht fühlte, lebt sichtlich auf, strahlt Erich an und lässt sich gerne von ihm in den Arm nehmen.
Schliesslich spürt Erich die Verbindung mit seinen beiden, bisher entfernten Selbstanteilen. Er fühlt sich frei, vollständig, ganz.
Klärung der Grenzen
„Installation” des eigenen Raumes
Leiter: Um mit dir selber in Verbindung zu bleiben, musst du unterscheiden können zwischen Erich und „Nicht-Erich”! Und du brauchst deinen eigenen „Erich-Raum”. Wenn da Erich draufsteht, sollte auch nur Erich drin sein! Wie wir gesehen haben, war da aber mehr Mutter als Erich drin! Eine typische „Mogelpackung”!
Erich nickt nachdenklich.
Und er ist bereit, seine Mutter symbolisch „auf gesunde Distanz zu halten”.
Nach anfänglichem Zögern – es fühlt sich völlig verboten an! – gelingt es ihm immer besser, seine Mutter auf Distanz zu halten. Zur Unterstützung verbindet er sich mit einem „Krafttier”, das ihm hilft sein „Territorium” zu schützen.
Die Mutter strahlt, so gefällt ihr Erich viel besser!
Wenn man die eigene Grenze nicht so gut wahrnehmen und schützen kann, dann kann man auch fremde Grenzen nicht immer wahrnehmen. Man geht vielleicht über fremde Grenzen – natürlich nur in bester Absicht! – und ist dann schockiert, wenn der Andere das nicht mag. Das kann sehr weh tun, wie Abweisung, Ablehnung!
Erich nickt. Und er kann jetzt erfahren, wie es ist wenn seine Mutter – oder jemand andere. z.B. eine Partnerin – sich auf gesunde Weise ihm gegenüber symbolisch abgrenzt.
Die gesunde Distanz
Am Schluss blickt Erich gelassen und stolz zu seiner Mutter. Er hat Achtung gewonnen, für sich selber, aber auch für seine Mutter.
„Mutter, mein Leben kommt von dir. Und ich sehe, wieviel es dich gekostet hat, mich gross zu ziehen! Und ich achte das!
Ich stimme zu, dass es auch mich einen Preis gekostet hat.
Das soll nicht umsonst gewesen sein!
Ich mache was aus meinem Leben!”
Kommentar
Dies Fallbeispiel zeigt sehr eindrücklich die
ANPASSUNGS-DYNAMIK AN EINE SCHWER TRAUMATISIERTE MUTTER.
Die Mutter selbst ist gar nicht bei sich, in ihrem eigenen Raum. Sie befindet sich – unbewusst – im Raum der verstorbenen Geschwister, sozusagen auf einem „Totenschiff”. Dort kann sie nicht mit ihrem Selbst verbunden sein, schon gar nicht mit ihrem lebendigen Anteil.
Sie hat einen sehr vitalen Sohn, der offensichtlich versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, sie von ihrem „Totenschiff herunterzuholen”. Das ist für sie anstrengend, lästig, vielleicht bedrohlich, stört sie in ihrer Verbindung mit den Verstorbenen. Und sie weiss sich nicht anders zu helfen, als diesem Kind einen gehörigen Schrecken einzujagen, ihm Angst und Schuldgefühle zu machen, indem sie vortäuscht, plötzlich zu sterben. Nur damit er sie „in Ruhe” lässt.
Für das 6-jährige Kind – hilflos, abhängig von seiner Mutter – ist diese Reaktion extrem existenzbedrohend, löst schwere Verlassenheits-Ängste und massive Schuldgefühle aus.
Wir wissen, dass das „emotionale Gedächtnis” diese „negative Bewertung” speichert und zwar gekoppelt mit den Impulsen der Lebendigkeit.
Das bewirkt, dass diese Impulse in Zukunft blockiert werden – noch ehe sie bewusst werden!
Das emotionale Gedächtnis „vergisst” das auslösende Ereignis und den Zusammenhang. Es speichert jedoch die Verknüpfung! Lebenslänglich!
(Auch Erich hatte diese Begebenheit völlig vergessen!)
Das ist perfekte Konditionierung – und deshalb nur schwer zu lösen.
Diagnose und Lösung durch „systemischen Selbst-Integration”
Bereits das Aufstellungsbild lässt vermuten, dass Erich mehr mit seiner Mutter als mit seinen Selbstanteilen verbunden ist. Das bestätigt sich im weiteren Verlauf. Erich
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befindet sich mehr in Mutters Raum als in seinem eigenen,
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stellt der Mutter seinen eigenen Raum, seine eigene Energie zu Verfügung,
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kann der Mutter gegenüber nicht zwischen Eigenem und Fremden unterscheiden,
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kann deshalb die Mutter und alles was zu ihr gehört, nicht auf gesunde Distanz halten
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ist abgespalten von eigenen Selbstanteilen
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seine Aggression, die sich nicht konstruktiv in der Abgrenzung entfalten kann, ist blockiert, wird destruktiv und richtet sich gegen ihn selber.
Hier haben wir die klassischen Aspekte der „symbiotischen Verwirrung” (Langlotz):
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statt sich mit sich selber zu identifizieren, ist Erich mit seiner Mutter identifiziert.
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Statt sich gegenüber der Mutter abzugrenzen, spaltet Erich Selbstanteile ab, so als seien sie für das Leben der Mutter und damit auch für sein eigenes Überleben gefährlich.
Der eigentlich Auslöser für dies Beispiel einer destruktiven Symbiose sind frühe Erlebnisse, die ihre Spur im emotionalen Gedächtnis zurück gelassen haben. Meist sind es wiederholte Erfahrungen, die eine derartige Konditionierung auslösen. Selten ist es nur ein Erlebnis – wie in unserem Beispiel – aber dann von einer grösseren Intensität, vergleichbar einem Trauma.
Die primäre Auswirkung dieser Konditionierung ist ein Verbot von Lebendigkeit, ein Lebens-Verbot. Diese Abspaltung eines zentralen Selbstanteils geht einher mit Abgrenzungsverbot (Tendenz zu Überanpassung/Überabgrenzung) und Aggressionsverbot/Autoaggression.
Für die nachhaltige Lösung ist entscheidend, diese unbewussten Verbote bewusst zu machen, die kindlichen Ängste und Schuldgefühle noch einmal zu erleben, und sich dann, hier und heute, als erwachsene Person zu entscheiden, die Verbote zu übertreten!
Wenn man dann als Erwachsener die Erfahrung macht, dass statt der befürchteten Katastrophe eine ungeahnte Befreiung eintritt, dann ist die Blockade, die Konditionierung gelöst.
Nachhaltig.
Andere Entstehungsbedingungen für destruktive Symbiose
Ausser der Beziehungserfahrung „traumatisierte Eltern” gibt es andere frühe Beziehungserfahrungen, die ebenfalls ein Symbiosemuster auslösen können:
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frühe Erfahrung von Gewalt und Übergriff,
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früher Verlust einer Bezugsperson,
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früher Verlust eines Geschwisters (auch Abgang, Fehlgeburt, Totgeburt oder Abtreibung).
(In unserem Fallbeispiel spielte auch frühe Gewalt eine entscheidende Rolle.)
Die hier beschriebene Vorgehensweise der „systemische Selbst-Integration” ist geeignet, die jeweils unterschiedliche Abspaltungsdynamik sichtbar zu machen und auf einer SYMBOLISCHEN EBENE zu lösen.
2.1.2012