Abstract: Viele Familienaufsteller verstehen das Kollektivsystem (Familie, Sippe) als einen Organismus, und den Einzelnen als quasi austauschbaren Teil. Sie sehen nur ein Grundbedürfniss: das nach Bindung und Zugehörigkeit. Bereits bei Hellinger selbst gibt es jedoch Ansätze für die Notwendigkeit von Abgrenzung und Individuation. Diese Ansätze werden hier weiterentwickelt zu einem neuem Konzept, welches neben dem Kollektivsystem (Familie, Sippe) das „System Individuum“ mit der Möglichkeit zu Selbstregulation und Autonomie beschreibt. Aus der Interaktion dieser beiden Systeme ergeben sich charakteristische „Verstrickungen.“ Hier hat auch die kollektive Destruktion ihre Wurzeln.

Diesen beiden „Systemen“ entsprechen die beiden Grundbedürfnisse: dem nach Bindung und Zugehörigkeit bzw. nach Freiheit und Autonomie. Wird diese „Bipolarität“ (Stavros Mentzos ) der Grundbedürfnisse im therapeutischen Konzept berücksichtigt, dann öffnet sich eine neue Sicht auf das Phänomen der individuellen und der kollektiven Symbiose und ihr ungeheures destruktives Potential. Unerwartete Lösungen werden möglich.

Bevor ich eigene Erfahrungen und Überlegungen zu den Phänomenen der kollektiven Destruktion zur Diskussion stelle, möchte ich Karl Jaspers und Arno Gruen zitieren, deren Aussagen mir gerade für das neue Konzept erstaunlich aktuell zu sein scheinen.

Die Atombombe und die Zukunft des Menschen

Der Philosoph – und Psychiater – Karl Jaspers hat kollektive Destruktion erlebt: Unmittelbar von Seiten des Naziregimes als Ehemann einer Jüdin und mittelbar durch den Atombombenabwurf der USA.

In seiner philosophischen Untersuchung kommt er zu der Schlussfolgerung (1):

Ich möchte weiterleben wie bisher…in den Konventionen, die ein soziologisches Gesicht geben..

Ich fliehe vor der Stimme aus dem Inneren, die nur dem Ernst der Besinnung hörbar wird….Ich fliehe vor dem, was ich, obgleich ich es mit allen Menschen gemeinsam bin, doch nur in der persönlichen Gestalt, als je dieser, je einmal, durch keinen anderen ersetzbar, sein kann….

Erst wenn diese Flucht aufhört und die Umkehr vollzogen wird, werde ich ich selbst. Dann löst sich die Einsamkeit, in deren Tiefe die Umwendung geschieht….Diese Einsamkeit ist nur noch der eine Pol, aus dem umso reiner die offene Kommunikations-Möglichkeit entspringt.

Wo die in sich wachsende Kraft der Polarität von Einsamkeit und Kommunikation nicht gewagt wird, da trifft der eigenwillige Trotz des Soseins, in verschleierter Wut, auf den anderen, der dasselbe ist. Beide werden in eine Einsamkeit gestossen, die doch keine ist. Denn da in ihr das Selbstsein ausbleibt (das nur in der Kommunikation mit anderen Selbst zu sich kommt), ist sie als Leerheit vielmehr die Verlassenheit infolge der eigenen Inkommunikabilität, die Verlassenheit vom anderen, vor mir selbst und von der Transzendenz mit dem verzweifelten Bewusstsein, überflüssig, weil nichts zu sein.“

Eine Theorie menschlicher Destruktivität

Der deutsch-jüdische Analytiker Arno Gruen(2) hat in seinem Buch „der Wahnsinn der Normalität, Realismus als Krankheit“ eine grundlegende Theorie menschlicher Destruktivität entwickelt.

Diese Arbeit ist meine Reaktion auf die persönlichen und beruflichen Erlebnisse mit dem Wahnsinn der Realität, der im Namen der Liebe Tod und Zerstörung hervorbringt. Es ist ein Akt des Selbstverrats, wenn ein Kind das Bewusstsein für sein eigenes Selbst zu verlieren beginnt. Dieser Prozess setzt damit ein, dass das Kind die Gefühle von Vater und Mutter nicht mehr unmittelbar wahrnimmt, sondern sich danach richtet wie diese sich selbst sehen. Solch eine „Anpassung“ an die elterlichen Machtbedürfnisse führt zu einer Spaltung in der psychischen Struktur des Kindes. ….Die Unfähigkeit, in sich selbst zu wurzeln, ruft zerstörerisches und böses Verhalten hervor.“ (Vorwort)

In diesen Texten taucht bereits das Thema Befreiung aus Konventionen und familiären Fesseln auf, das Wagen der Einsamkeit durch Finden zum Selbst, um eine wirkliche Begegnung auf einer neuen Ebene möglich zu machen.

Durch eine modifizierte Form der Systemaufstellung lassen sich diese von Karl Jaspers und Arno Gruen beschriebenen Phänomene von Überanpassung und Selbst-Entfremdung, Autonomieverlust und Destruktivität und ihr Zusammenhang mit einem kollektiven Anpassungsdruck sichtbar und bewusst machen. So wird es möglich, sie zu erforschen, besser zu verstehen und neue Lösungsstrategien zu entwickeln. Bevor ich das neue Konzept vorstelle, skizziere ich grundlegende Aspekte des Familienstellens.

Die Verbindung mit den Ahnen

Bert Hellinger, möglicherweise bewegt durch eigene Erfahrungen mit den archaischen Stammesgewohnheiten der Zulus, hat das menschliche Grundbedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit betont. Er prägte die Begriffe des „Sippengewissens“, der „Familienseele“(3), deren Destruktivität er genau beschrieb, denen er dennoch eine schicksalhafte Macht zusprach. So „sorge das Sippengewissen dafür, dass ein vergessenes oder „ausgeklammertes“ Familienmitglied von einem späteren vertreten wird, der dessen Schicksal – unwissend und unschuldig – übernimmt.“

Der Betroffene könne sich aus dieser „Identifikation“ lösen, vom „falschen“ auf den „richtigen“ Platz im Familienverband gelangen, wenn er den Ausgeklammerten und dessen Schicksal achtet, sich vor ihm verneige. So könne er die „blinde“ (unbewusst nachahmende) Liebe wandeln in eine „sehende“ Liebe.

Hier taucht der Aspekt von Abgrenzung gegenüber dem Schicksal der Ahnen auf. Ebenso da, wo er von der Notwendigkeit spricht, sich aus dem Sippengewissen und dessen Wertvorstellungen zu lösen und zu einem persönlichen Gewissen zu gelangen. Diesen Aspekt hat er jedoch, wie es scheint, nicht weiter entwickelt.

Daan van Kampenhout(4) verwendet in seinem neuesten Buch „Die Tränen der Ahnen“ den Begriff „Stammesseele“, auch er spricht von ihrem destruktiven Potential. Einerseits betont er die Notwendigkeit der Individuation, andererseits sei es unvermeidlich, sich mit dieser Stammesseele zu identifizieren..

Albrecht Mahr hat kürzlich in einem Vortrag in München über seine Erfahrungen mit politischen Aufstellungen berichtet. Im Zusammenhang mit kollektiver Destruktion, z.B Genocid sprach auch er von der „Stammesseele“, von „Schattenkräften des Bösen“, denen eine gewisse eigene Autonomie zugesprochen werden müsse.

Diese Vorstellung von einer Autonomie des Bösen scheint mir problematisch. Wie konnte sie entstehen?

Ich folge dir in den Tod“

Bereits diese bekannte Formulierung Hellingers wird nicht selten so formuliert und (miss-?) verstanden, als ziehe ein Verstorbener einen Lebenden in den Tod.

Manche sprechen von Anhaftungen, das erinnert an gewisse schamanische Vorstellungen von „Besetzung“, der zufolge eine „unerlöste Seele“ gar nicht wisse, dass sie gestorben sei und sich deshalb an einen Lebenden klammert, sein Leben, seine Wahrnehmung bestimme, als wäre sie ein Teil von ihm geworden.

Hier wird einem Verstorbenen eine eigene Autonomie zugesprochen, als hätte dieser die Kraft, auf einen Lebenden einzuwirken, dessen Autonomie zu beeinträchtigen.

Hier wird die Autonomie verschoben von den Lebenden zu den Verstorbenen?

Das schwächt die Selbstverantwortung und die Lösungskompetenz der Klienten in zweierlei Hinsicht:

Lebende werden zu Opfern gemacht, anstatt sie zur Autonomie, zur Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung zu befreien.

Die Angst vor den Verstorbenen, vor dem Tod wird verstärkt, anstatt den Mut und die Freude zum Leben zu wecken.

Verschmelzende Identifikation

Nach meiner Erfahrung mit Systemaufstellungen handelt es sich in den meisten Fällen von so genannten „Anhaftungen“ um eine hochgradige, „verschmelzende“ Identifikation. Hat z.B. die Mutter früh ihren Vater verloren, dann steht der Klient steht buchstäblich an dessen Platz. So als habe er als Kind gespürt, dass die Mutter ihn als Kind nicht wahrnehmen konnte, sondern von ihm – unbewusst – erwartete, ihr den Vater zu setzen. Wenn man ihn in der Aufstellung an den Platz des Verstorbenen stellt, „kennt er sich da aus“, als wäre er da „zu hause“. Diese Identifizierung – falsches Selbst – bestimmt seine Wahrnehmung, sein Schicksal.

Gleichzeitig gibt er dem Verstorbenen Raum, stellt ihm seinen „inneren Raum“ zur Verfügung, so als gäbe es keine Grenze zwischen ihm und dem Verstorbenen. Stellt man ihn an seinen „richtigen Platz“ und lässt ihn zum Verstorbenen sagen: „du bist du, ich bin ich, du hast dein Leben gelebt, ich lebe meines!“ dann ist ihm das in vielen Fällen gar nicht möglich! Viele erleben diesen Satz als etwas Verbotenes, wie einen Verrat, wie Schuld. Als hätten sie nicht das Recht auf Abgrenzung, auf einen eigenen „inneren Raum“, auf eine eigene Wahrnehmung, auf Autonomie!

Hier taucht zum ersten Mal ein Phänomen auf, das man als „unbewusstes verinnerlichtes Abgrenzungsverbot“ bezeichnen könnte.

Hier wirkt offensichtlich die Kraft des Familiensystems mit seiner Selbstregulation, das den Einzelnen – unbewusst und ungefragt – in seinen Dienst nimmt, ihn verwirrt und die Entfaltung eines eigenen Lebens beeinträchtigen kann. Und diese Kraft ist so stark, dass ein Stellen auf den richtigen Platz, das Achten und Verneigen z.B. vor dem früh verstorbenen Grossvater allein diese verwirrende Identifikation nicht immer lösen kann.

 

Der Symbiosekomplex

Klienten, die so von ihrem Familiensystem „in den Dienst genommen“ sind, dass sie nicht zu sich Selbst, zu ihrer eigenen Identität, Wahrnehmung und Autonomie gefunden haben, tun sich schwer, ihr Leben selbst-bestimmt zu leben. Solange sie noch derart mit ihrem Familiensystem identifiziert sind, kann sich das „System Individuum“ nicht entfalten.

Diese verschmelzenden Identifikationen sind häufig nicht leicht zu lösen. Ich verstehe sie als einen Aspekt des „Symbiosekomplex“ (5), der nach meiner Erfahrung aus den drei Aspekten:

Verschmelzungstendenz (Überanpassung),

Selbst-Entfremdung und

Aggressionshemmung (Abgrenzungsverbot)

besteht.

Oft kommen zwei weitere sekundäre Aspekte hinzu, die als Kompensationsversuche verstanden werden können: Überabgrenzung und Tendenz zur Manipulation.

Die Selbst-Entfremdung, der fehlende Zugang zur eigenen Erinnerung, zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen erschwert dem Klienten die Orientierung, die Selbst-Regulation, die Autonomie. Sie macht ihn anfällig für Manipulation, Fremdbestimmung, Abhängigkeit. So verstärken sich Selbstentfremdung und Verschmelzungstendenz gegenseitig im Sinne eines Teufelskreises. Symbiose wird zur Falle.

Konstruktive Aggression, z.B. in der Abgrenzungsbewegung, wird ebenfalls als verboten erlebt und deshalb unterdrückt. Die gestaute Aggression wird destruktiv, richtet sich gegen sich selbst, – Stress, Depression, psychosomatische Erkrankung – oder werden vom Kollektiv nach aussen, gegen „Sündenböcke“ oder „Feinde“ gelenkt.

Beziehungen werden durch das Symbiosemuster belastet bis zum Zerbrechen. Die Betroffenen schwanken nicht selten zwischen Überanpassung und Überabgrenzung, zwischen Verschmelzung und Kontaktabbruch. Das ist das symbiotische Dilemma.

Das „System Individuum“ und neue Lösungsstrategien

Die Lösung wird möglich, wenn man dem Klienten bewusst macht, dass er eine Option für das System Individuum hat. Wenn sich im Symbiosemuster die Tendenzen zu Überanpassung und Selbstentfremdung gegenseitig verstärken, so kann das auch für die Lösung berücksichtigt werden, dergestalt, dass Lösen aus dem „System Familie“ und Finden zum „System Individuum“ Hand in Hand gehen.

Hier sind Beobachtungen der Säuglingsforschung hilfreich. Nach Martin Dornes (6) kann der Säugling schon mit zwei Monaten (!) sich als getrennt von der Mutter erleben, entwickelt er früh ein – zunächst vorbewusstes – Selbst-Empfinden.

Entscheidende Struktur-Elemente der Person wie Abgrenzung, eigener innerer Raum und eigenes Selbst gehören also zur „Grundausstattung“!

Lösungsprozess

Der Leiter lässt den Klienten einen Repräsentanten für sein „Selbst“ aufstellen, genauer für den Teil von ihm, mit dem er nicht verbunden ist (z.B.„der sich frei und unbefangen fühlt, der lebendig sein darf.“). Meist stellt der Klient diesen Teil weit entfernt von sich auf. Im Gegenüber zum „Verstorbenen“ (Stellvertreter) spürt er keinen Bezug zu diesem Teil. Das macht ihm die „Entfremdung“ zu seinem „Selbst“ deutlich.

Durch bestimmte Abgrenzungs- und Abschiedsrituale ist es immer möglich, die „symbiotische Identifikation“ mit dem Verstorbenen zu lösen. Erst dann spürt der Klient wieder eine Verbindung zu dem „abgespaltenen“ Selbstanteil, kann auf diesen Teil zugehen. Diese Annäherung an das eigene abgespaltene Selbst ist meist sehr berührend, so als würden sich alte Bekannte nach langer Zeit wieder begegnen.

Wenn er dem Verstorbenen diesen neu gewonnenen Selbstanteil vorstellt, der lebendig sein darf, „freut“ sich meist der Verstorbene (Stellvertreter), so als sei auch er jetzt frei, seinen Frieden zu finden, als sei er bisher vom Lebenden durch dessen Trauer festgehalten worden.

Erforderlich ist jetzt noch ein Abgrenzungsritual. Zwischen dem Klienten und dem Verstorbenen gab es buchstäblich keine Grenze, er hatte keinen eigenen, geschützten „Inneren Raum“. Um diese Abgrenzung, diesen „natürlichen Schutzreflex“ wieder zu „etablieren“, muss er nun den Verstorbenen buchstäblich über eine symbolische Grenze zurückschieben. Damit mobilisiert er sein aggressives Potential auf konstruktive Weise und kann seinen „Inneren Raum“ wieder herstellen. An diesem „geschützten Platz“ kann er seine abgespaltenen „Selbst“-Anteile wieder integrieren, muss sie nicht mehr vor anderen „verstecken“.

Bei diesem Ritual des Wegschiebens wird oft eine Hemmung deutlich, so als sei Abgrenzung verboten. Dieses bereits oben erwähnte „unbewusste Abgrenzungsverbot“ scheint so etwas wie der unbewusste Zentralaspekt des Symbiosekomplexes zu sein.

Abgeschlossen wird die Lösung durch die Verabschiedung von dem Verstorbenen: „vielleicht habe ich dich unbewusst durch meine Trauer festgehalten, für dich ist es schon lange vorbei. Und du darfst jetzt auch deinen Frieden finden.“

Meist fühlt sich der „Verstorbene“ frei, und geht erleichtert dahin, wo er „seinen Frieden finden kann“.

Durch diese systemische Sicht- und Vorgehensweise verliert der Verstorbene alles Bedrohliche, es wird deutlich, dass der Klient selbst, um sich der Mutter nahe zu fühlen, den Verstorbenen „unbewusst festgehalten“ hatte – und dadurch seinem „Selbst“ entfremdet war. Durch diese Abschiedsrituale „kann der Verstorbene sterben“ und der Klient leben. So als habe er sich zuvor, verklebt mit dem Verstorbenen, an der Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehalten, als wäre er noch gar nicht im Leben angekommen.

Nach diesem Abschiedsritual kommt meist der Abschiedsschmerz. Auch das zeigt, dass der Klient sich von dem Verstorbenen bisher nicht verabschiedet hatte.

Es wird deutlich: Zum Symbiosemuster gehört offensichtlich auch eine Unfähigkeit, sich zu verabschieden. So bleiben die Betroffenen mit den Verstorbenen verbunden, als seien sie noch am Leben. Die Grenzen zwischen den Generationen, die durch Tod und Geburt gesetzt werden, verlieren so ihre heilsame Wirkung, nämlich die, dem Einzelnen einen eigenen abgegrenzten Raum zu ermöglichen.

Problematisches „Verzeihen“

Wird die Interaktion von Familiensystem und Selbstsystem derart verstanden, dann erscheint das von manchen Aufstellungsleitern geforderte Verzeihen gegenüber sehr verwirrenden oder traumatisierenden Eltern sehr problematisch. Es kann den Klienten erneut von seinen abgespaltenen Selbstanteilen trennen, ihn erneut zu traumatisieren.(7) Erforderlich wäre es nach diesem Konzept, ihn dabei zu unterstützen, sich von diesen Eltern abzugrenzen, sich mit sich selbst, mit seinen abgespaltenen Selbstanteilen zu versöhnen!

Das könnte die Ursache dafür sein, dass immer wieder Klienten nach einer derartig geleiteten Familienaufstellung in eine suizidale oder psychotische Krise geraten.

Symbiose und psychiatrische Störungen

Symbiosemuster treten in unterschiedlicher Intensität auf. In geringere Ausprägung finde ich sie bei Beziehungsstörungen, in intensiver Ausprägung – meist als „kollektive Symbiose“ bei psychiatrischen Störungen: Depression, Sucht, Essstörungen, Borderline-Syndrom, und Psychose. Bemerkenswert scheint mir, dass bereits 1993 der französischer Psychoanalytiker H.Faimberg eine Verschachtelung der Generationen bei Psychose beschreibt. Der Klient ist unbewusst mit seiner Mutter identifiziert, die wiederum mit ihrer Mutter identifiziert ist. Er nennt das „ téléscopage des générations“ (8). Durch die fehlende Abgrenzung zwischen den Generationen hat das Kind unmittelbaren unbewussten Zugang zu traumatischen Erlebnissen der Großeltern.

Systemische Selbst-Integration“

Eine derart modifiziertes Konzept der Systemaufstellung – man könnte es als „systemische SELBST-Integration bezeichnen“ – berücksichtigt sowohl das „System Familie“ als auch das „System Individuum“. Das erlaubt es, die Interferrenzen zwischen beiden Systemen zu beobachten, besser zu verstehen und neue Lösungsansätze zu entwickeln. Parallelen zu dem Bipolaritätsmodell von Stavros Mentzos (8) und dem Jung’schen Konzept der Individuation (9) werden deutlich.

Dies Konzept entfaltet ein enormes emanzipatorisches Potential. Die Einbeziehung des Symbiosemusters, die Verwendung von Repräsentanten für die abgespaltenen Selbstanteile – das „Selbst“ – nehmen den Aufstellungen das Schwere, vermitteln Lebendigkeit und Fröhlichkeit. Resignation weicht der Hoffnung. Der Repräsentant des Selbst vertritt oft den Teil, der nein sagen darf, sich wehren darf. Bisweilen steht er auch für das „innere Kind“, das damals alleine und traurig oder zornig war, von niemandem gesehen und verstanden wurde – und schließlich vom Klienten selbst „vor die Türe“ geschickt wurde.

Nicht selten empfinden die Repräsentanten des „Selbst“ so etwas wie eine bedingungslose Liebe zum Klienten. Das „Selbst“ repräsentiert möglicherweise auch den Aspekt, der Verbindung zur Transzendenz hat, entsprechend der Formulierung C.G.Jungs, der das Selbst als „den göttlichen Funken“ bezeichnete.

Kollektive Symbiose“

Das Symbiosemuster ist meist familiär vorgegeben. Wenn, wie in unserem Beispiel, die Mutter sich von ihrem früh verstorbenen Vater nicht verabschieden konnte, erwartet sie unbewusst von anderen – dem Partner, einem Sohn, einer Tochter – dass sie ihr diesen Verlust ersetzen. Das hindert sie daran, z.B. den Sohn als Sohn wahrzunehmen. Der Sohn spürt, dass er als Kind mit seinen kindlichen Befürfnissen von der Mutter gar nicht wahrgenommen, ja vielleicht sogar abgelehnt wird. In seinem Bedürfnis, der Mutter nahe zu sein, für sie bedeutsam zu sein, „identifiziert“ er sich mit deren Erwartungen, unterdrückt eigene Selbstanteile. So entwickelt er eine falsche Identität, ein „falsches Selbst“.

Das Symbiosemuster kann „systemisch“ als Anpassungs- und Überlebensstrategie an traumatisierte – und traumatisierende – Eltern verstanden werden.

Es wird von den Eltern auf die Kinder übertragen: Der mit seinem Grossvater identifizierte Sohn konnte nicht wirklich Sohn sein, hat die Erfahrung von Vater und Mutter vielleicht nie gemacht. So wie er glaubte, seiner Mutter das Fehlende ersetzen zu müssen, erwartet er das nun von seiner Partnerin, von den Kindern. So kann eine „kollektive Symbiose“ entstehen. Das ist besonders in schwer traumatisierten Kollektiven zu beobachten.

Sippengewissen“

Mit der kollektiven Symbiose ist meist ein eigenes Glaubens-System verbunden, das ebenfalls von Generation zu Generation weitergegeben wird: “Selbstlosigkeit“ wird als Liebe verstanden, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Abgrenzung wird als egoistisch und lieblos, als Verrat diffamiert. Die Bestimmung des Einzelnen ist es, für die Bedürfnisse des Kollektivs, konkret der traumatisierten Eltern zur Verfügung zu stehen. Salopp ausgedrückt: Prothese zu sein für die Amputationswunde der Eltern.

Kollektive Symbiose gibt es auch ausserhalb der Familie, in Vereinen, Sekten, Therapieschulen, ja ganzen Volksgruppen.

Der Kollektiven Symbiose entspricht ein familiäres kollektives Unbewusstes. Da es zwischen den Generationen keine Grenzen mehr gibt, teilen sich Erfahrungen Gefühle, Schicksale der Früheren unbewusst den Späteren mit: Die Enkelin hat z.B. die Bilder und Gefühle von sexuellem Übergriffen, die nicht in ihre eigene, sondern in die Biografie der Grossmutter gehören, welche auf der Flucht vergewaltigt wurde.

Fallbeispiel kollektive Symbiose

Ein Klient, der bei einer Kollegin eine systemische Symbioselösung erlebt hat, gab mir diesen Bericht zur Veröffentlichung:

Der Verlauf der Arbeit wurde dramatisch, aber durch und durch positiv.

Die Hauptarbeit lag dabei im Verhältnis zur Mutter, weil da so viele verstorbene Ge-schwister waren und wohl auch weil ich durch mein, vor der Geburt gestorbenes Geschwister, eine sehr belastete Beziehung zur Mutter und zum Leben mit gebracht habe.

Durch mehrere Einzelschritte, die Manu sehr gut auf die immer deutlicher werdende Verschmelzung mit der Mutter- (und später auch Vater-) Lebensgeschichte einstellte, kam ich vor die alles entscheidende Entscheidung. Es war die Unmöglichkeit mich vor diesem(n) (tief in mir “verhassten”) Schicksal(en) zu verbeugen, so hart war der Widerstand in mir dagegen. Dann wurden in Einzelschritten der verlorene Selbstan-teil der Mutter (später auch des Vaters) dazu genommen und so konnten die Eltern nacheinander ihr eigenes Schicksal annehmen. Als der Vater sein Schicksal annehm-en konnte (in unserer Familie gab es eine Väter-Wut, die aus der traumatischen Ge-schichte der drei Väter gut erklärbar ist) erlosch mein wütender Widerstand und ich spürte ein inneres Lachen, das mir zuerst verrückt vorkam, mir aber jeden Widerstand nahm.

Es war wie verrückt. In der zu Tode ernsten Auseinandersetzung wurde ich, durch das Anerkennen (der Verantwortung) durch die Eltern für ihren Bereich, befreit von einer wahnsinnigen Last und Widerstand gegen irgend etwas unbekanntes. Ich hatte gar keine Handhabe mehr, mich gegen etwas zu wehren, das gar nicht mehr bei mir war.

Es war auf einmal eine klare Trennung der Lebenswege / Bereiche entstanden, die ich bis dahin tief in mir wohl nie auseinanderhalten konnte.

Woher sonst denn mein erbitterter Widerstand gegen das Schicksal der Eltern und ihrer Familien. Durch die traumatische Erstarrung in der Vorgeburtsphase steckte vielleicht auch schon eine Wurzel meines Widerstandes (gegen das Leben?) in mir.

Jetzt konnte ich mich wirklich leicht vor -meinem- Schicksal verbeugen.

Dann brach es aus mir heraus und ich wurde von Tränen- Schüben der Erleichterung aber auch der Trauer und ich weiß nicht was für Gefühlen geschüttelt und aufgewühlt, aber auch dabei befreit. Es war wie ein heftiges Reinigungsbad. Die Heftigkeit war aber der Ursache und der gleichzeitigen Erleichterung mehr als angemessen.

Mein Blut kochte! Ich hatte Schwierigkeiten auf den Beinen zu bleiben und hatte auf einmal das Gefühl nicht mehr zu wissen was ich hier mache, wo (wie) ich bin, wo ich hin gehöre oder hin will.

Es war totale Orientierungssuche ohne Antwort. Aber ich wusste, jetzt geht alles weg und irgendwie fange ich wohl neu an.

An dem Abend und in der Nacht hat mich dann ein Gedanke und Gefühl beschäftigt, eine Art neues Programm für mich, das in der Arbeit schon Thema wurde, „Leben“. Leben (ohne Mutter-Vater bzw. Geschichte). Da habe ich nacheinander die enorme Herausforderung an mich gespürt, die Befreiung, den Frieden, aber auch einen Teil Verlust.

Jetzt entschlackt mein Körper wie verrückt, etwas das ich mir seit langem wünsche. Es zieht langsam das Gefühl von Frieden in mir ein und es wird wohl auch noch weiter einiges passieren, aber der Knoten ist gelöst und ich werde es zunehmend auch.

 

Rückgriff auf archaische Muster?

Möglicherweise handelt es sich bei der kollektiven Symbiose um eine archaische Überlebensstrategie aus der menschlichen Frühzeit, als nur die Clans überleben konnten, der Einzelne sich nicht ohne seinen Clan denken konnte. Das Wiederauftreten dieses Musters in traumatisierten Kollektiven kann als Regression, als Zurückgreifen auf archaische Bewältigungsstrategien verstanden werden.

Der Slogan „Du bist nichts, dein Clan (Volk) ist alles“ wurde dann von den Nazis erfolgreich missbraucht, um ihren terroristischen Manipulationen der Massen den Anschein einer moralischen Legitimation zu geben. Kollektive Symbiose ist mit kollektiver Selbstentfremdung verbunden, einer kollektiven Unterdrückung der eigenen Wahrnehmung, des eigenen Gefühls, der eigenen Bedürfnisse. Damit geht auch das Mitgefühl verloren.

Es entsteht ein ungeheures aggressives Potential:

Durch das Symbiosemuster an sich: die Wut über das „ungelebte eigene Leben“, Verlust der Selbstbestimmung, der Autonomie,

durch die symbiotische Identifikation mit dem Leid der Ahnen und die Tendenz, dieses Leid der Ahnen zu rächen, als wäre es das Eigene.

Das gestaute aggressive Potential wird destruktiv, wird umgeleitet z.B. auf einen äusseren Feind, auf Sündenböcke, oder gegen eigene Selbstanteile.

Stammesseele“

Kampenhout beschreibt zutreffend die Phänomene der kollektiven Seele: den Verlust des Ich-Gefühls zu Gunsten eines Wir-Gefühls, die Tendenz, randständige Mitglieder auszustossen und dadurch den Zusammenhalt zu stärken. Er beschreibt auch das Phänomen, dass in solchen Kollektiven Mord erlaubt ist, wenn die Opfer Gegner des Kollektivs sind. Und völlig zutreffend findet er das Phänomen der „Stammesseele“ auch in jedem Fussballklub, bei den Nazis, bei fundamentalistischen Religionen und bei den Hell’s Angels.

Kampenhout sieht also durchaus das Bedrohliche und Unheilvolle, das Potential der „kollektiven Destruktion“.

Auf S. 239 beschreibt er die Notwendigkeit von Individuation: „Der wahre Weg aus dem Griff der Stammesseele heraus ist die Annahme einer persönlichen Identität“ Wenige Abschnitte später heisst es: “Individuation bedeutet nicht, dass das Prinzip einer kollektiven Identifizierung aufhört zu funktionieren, sondern dass die Identität vielschichtiger wird.“

Wie ist das zu verstehen?

Identitäts- Trauma und „Stammesseele“

Kampenhout hat in unserem Briefwechsel dazu bemerkt, dass hier vielleicht ein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden bestehe. Dass es zur jüdischen Identität gehöre, die Geschichte zu erinnern, z.B. den Auszug aus Ägypten.

Die Identität eines Volkes wird bestimmt durch die gemeinsame Heimat, Sprache, Religion, Gebräuche, auch durch die Geschichte. Für das in alle Welt verstreute Volk der Juden ist der Verlust der gemeinsamen Heimat das kollektive Trauma ihrer Identität.

Und dies Identitäts-Trauma wird identitätsstiftend.

Ähnliches sehen wir – in abgeschwächter Ausprägung – auch in Deutschland bei den Nachkommen der Vertriebenen aus den ehemaligen östlichen Gebieten. Aus einer tiefen identifizierenden Verbundenheit mit ihren Vorfahren und deren Leid tun sie sich oft schwer, sich in ihrer neuen Heimat wirklich zuhause zu fühlen. Und: es bleibt über Generationen ein Groll gegenüber den „Vertreibern“.

Je grösser das Trauma der Ahnen den Nachkommen, desto schwerer ist es für die Nachkommen, sich von ihnen und ihrem Leid abzugrenzen, so als sei das Verrat, lieblos, undankbar und egoistisch. Ohne den Schmerz von Abgrenzung und Abschied, ohne das Gefühl des Verrates, ohne die Erfahrung von Einsamkeit scheint aber Individuation nicht möglich!

Mit den Worten Karl Jaspers: „Wo die in sich wachsende Kraft der Polarität von Einsamkeit und Kommunikation nicht gewagt wird, da trifft der eigenwillige Trotz des Soseins, in verschleierter Wut, auf den anderen, der dasselbe ist.“(1)

Es wird deutlich: Die identifizierende Verbundenheit mit dem Leid – oder in Deutschland der Schuld – der Ahnen, erschwert den Prozess der Individuation, erschwert eine Versöhnung mit dem Schicksal der Ahnen. Sie verhindert auch eine Versöhnung mit den Nachkommen der damaligen Gegner, so als müssten die Nachkommen immer noch das den Ahnen angetane Unrecht rächen – oder für die von ihnen begangenen Verbrechen sühnen.

Die Folge ist der Teufelskreis der Gewalt.

 

Kollektive Destruktion: Identifikation mit der „Stammesseele“

Ein Extrembeispiel für „Identifizierung mit der Stammesseele“ ist die in manchen Regionen der Welt noch praktizierte Blutrache. Über Generationen hinweg steigert sich die Fehde zwischen benachbarten Clans. Nach den ungeschriebenen Stammesgesetzen hat ein bestimmtes Familienmitglied den Auftrag, die Ermordung eines Familienmitgliedes durch den Mord an einem bestimmten Mitglied des anderen Clans zu vollziehen. Und so fort! Und alle wissen das! Nicht selten wird der Mord wie ein Ritual vollzogen.

Der Konflikt zwischen Serben und Muslimen kann als ein weiteres Beispiel für die destruktiven Auswirkungen einer Identifikation mit der Stammesseele verstanden werden. So werden Konflikte zwischen Religionen oder Volksgruppen über Generationen weitergegeben, als gäbe es keine Grenze von Tod und Geburt. Wenn Milosevic, Karadzic und andere sich mit den „Märtyrern“ des serbischen Widerstandes gegen die Osmanen vor Hunderten von Jahren identifizieren, als wäre deren Leid ihr Eigenes, als hätten sie und die von ihnen mobilisierten Massen die Aufgabe, ja das Recht, deren Schicksal an den Nachkommen der Täter zu rächen, dann kann das als kollektive Identifikation mit der Stammesseele, als „kollektive Anhaftung oder Besetzung“ verstanden werden. Dies ist verbunden mit einer kollektiven Sebst-Entfremdung : die Täter handeln so, als hätten sie kein Mitgefühl. Es besteht kein Unrechtsbewusstsein für die begangenen Greueltaten.

Ist das nicht eine plausible Erklärung für die angeblich autonomen „Schattenkräften des Bösen“?

Der Anschein von Autonomie entsteht offensichtlich erst dadurch, dass das Phänomen der kollektiven Symbiose mit seinem ungeheuer destruktiven Potential als angeblich unvermeidbare schicksalhafte Instanz, als „Familienseele“ (Hellinger) oder als „Stammesseele“ (Kampenhout) bezeichnet wird.

Hier wird das Symbiosemuster, der Anteil der Lebenden an diesem Phänomen übersehen.

 

Exkurs:

Erinnerungskultur und Versöhnung

Kampenhout stimmte in unserem Dialog zu, dass viele deutsche Klienten durch die KZ- Erinnerungsstätten traumatisiert wurden.

Es ist ungeheuer schwer, das Thema Holocaust so darzustellen, dass gerade auch Jugendliche nicht überschwemmt werden von der Wucht des Destruktiven. Sonst ist es möglich, dass manche überfordert sind, abstumpfen, zynisch werden, sich mit den Opfern oder gar mit den Tätern identifizieren.

So notwendig es ist, daran zu erinnern, welch unfassbares Unrecht Menschen sich angetan haben, so wichtig erscheint es mir,

die Entstehung von Terror-Regimes, von kollektiver Entfremdung und Destruktivität als gruppendynamisches Phänomen verstehbar zu machen, und

sie dadurch zu entdämonisieren, dass man einzelne Beispiele für gelungenen Widerstand aufzeigt, und

den menschlichen, geistigen und kulturellen Reichtum sichtbar zu machen, der durch den Holocaust zerstört wurde.

Das ermöglicht Distanzierung und daher Mitgefühl und Trauer.

Und erleichtert es, die aktuelle globale Destruktion besser zu verstehen, ihr anders zu begegnen, durch Abgrenzung und Individuation!

Die Vision von Freiheit und Versöhnung

Die destruktive Wucht der Identifikation mit der Kollektivseele ist unübersehbar. Sie führt zu den zahlreichen Stammes- und Religions- Kriegen.

Offenbar bedarf es da einzelner, „individuierter“ Persönlichkeiten, die sich von diesem kollektiven Druck, dem Bedürfnis nach Rache – oder Sühne – abgrenzen können, und ihm die Vision von Freiheit und Versöhnung entgegensetzen.

De Gaulle und Adenauer ist es gelungen, durch ihr persönliches Beispiel mit dazu beizutragen, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ zu beenden! Das hat die Achtung für die eigenen nationalen Traditionen nicht gemindert, ganz im Gegenteil!

In den USA hat Martin Luther King, ein Nachkomme afrikanischer Sklaven, sich dem kollektiven Bedürfnis nach Rache und Vergeltung entgegengestellt. Er hat Gewaltfreiheit propagiert und seinen „Traum verkündet“, dass seine Kinder oder Enkel nicht mehr nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach ihren Fähigkeiten.

Er selbst wurde zwar kurz danach ermordet. Es ist also nicht ungefährlich, sich dem kollektiven Bedürfnis nach Rache – den „Schattenkräften“ – entgegenzusetzen.

Aber seine Vision hat etwas bewirkt! Heute, 45 Jahre später erleben wir, dass Barak Obama, ein Farbiger, Präsident der USA wird! Dieser Mann ist getragen von der Hoffnung der Vielen, die ein tiefes Bedürfnis nach Befreiung aus den kollektiven Zwängen, den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in sich tragen. Und diese Vision scheint über die Grenzen der USA hinaus weltweit zu wirken!

 

Von den Kindern

In unserer Kultur gibt es Vorstellungen, welche die Entstehung einer kollektiven Symbiose fördern: Selbst-Losigkeit und Mitleiden werden oft von Liebe (miss-)verstanden, nicht selten als christliche Tugend bezeichnet. Eltern mischen sich, unter dem Deckmantel der selbstlosen Fürsorge, massiv in das Leben ihrer Kinder ein.

Da ist der folgende Text des christlich-arabisch geprägten Dichters Khalil Gibran in seiner Klarheit fast erschreckend.

 

 

VON DEN KINDERN

KHALIL GIBRAN

 

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihre dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken.

Ihre dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,

denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,

das ihr nicht besuchen könnt,

nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,

aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen,

von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze

sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

und ER spannt euch mit seiner Macht,

damit seine Pfeile so schnell und weit fliegen.

Lasst eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;

Denn so wie ER den Pfeil liebt, der fliegt,

so liebt er auch den Bogen,

der fest ist.

aus „Der Prophet“

 

02.03.2009, Dr. Ernst Robert Langlotz, München

 

Literatur

1. Karl Jaspers (1961) Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, dtv 7 S. 316/7

2. Arno Gruen (1987) Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie zur menschlichen Detruktivität, dtv dialog und praxis 15057

3. Bert Hellinger (1994) Ordnungen der Liebe, Carl Auer-Verlag, Heidelberg

4. Daan van Kampenhout (2008) Die Tränen der Ahnen, Opfer und Täter in der kollektiven Seele, Carl Auer

5. Ernst R. Langlotz (2006) “Zur Diskussion gestellt: Verschmelzungssyndrom oder Verstrickung (Familienseele oder Individuation?)” In Praxis der Systemaufstellung, Heft 2,S. 40

6. Martin Dornes (1993) Der Kompetente Säugling, Fischer 11263

7. Ernst R. Langlotz (2006) “Destruktion und Autonomieentwicklung – Ein Beitrag zum Verständnis und zur Behandlung destruktiven Verhaltens” In Praxis der Systemaufstellung,Heft 1 (S. 46)

8. H. Faimberg, (1993): le tétéscopage des générations, In : Kaés, R (Hg) Transmission de la vie psychique entre générations, Paris

9. Stavros Mentzos, Psychotherapie in der Behandlung von chronisch schizophrenen Patienten, „Psychotherapie im Dialog“, September 2003, S.223-229 und ders. (2003) Psychodynamik und Psychotherapie schizoaffektiver Psychosen, Vortrag bei Dr. Jung

10. Ernst R. Langlotz Individuation nach C.G.Jung und „Initiatische Systemaufstellung“ (2008) in JUNG heute, Verlag Dieter Klein.com