Dies Büchlein des französischen Schriftsteller und Piloten Antoine de Saint-Exupery übt in seiner charmanten Mischung von Poesie, Weisheit und Melancholie einen eigenartigen Zauber aus.
Kürzlich bin ich ihm nach vielen Jahrzehnten wieder als Hörbuch begegnet und ich glaube nun, sensibilisiert durch meine eigene therapeutische Arbeit, das Geheimnis – und die Gefahrl!? – dieses Zaubers zu verstehen.
Ich versuche das in gedrängter Form zu skizzieren.
Biografische Aspekte
Der Autor verlor sehr früh, mit 4, seinen Vater und später einen sehr geliebten Bruder. Schon früh hatte er den Wunsch, Pilot zu werden. Er ist am 31.7.1944 im Krieg, im Einsatz über dem Mittelmeer verschollen, wahrscheinlich abgeschossen von einem deutschen Kampfflieger.
Das Büchlein entstand Anfang 1943, als er sich für längere Zeit ohne seine Frau in New York aufhielt. 2000 erschienen aus Nachlasspapieren zusammengestellte Erinnerungen seiner Witwe (Mémoires de la rose, Paris: Plon; deutsch Die Rose des kleinen Prinzen, München: Econ-Ullstein-List, 2001). (diese Informationen aus Wikipedia)
Die Story
Der Autor muss wegen eines Schadens an seinem Flugzeug in der Wüste notlanden. Ohne fremde Hilfe mit einem knappen Wasservorrat befindet er sich in existentieller Gefahr. Da begegnet er dem kleinen Prinzen. Als Einziger versteht dieser seine Kinderzeichnungen, über die die Erwachsenen früher nur gelacht haben.
Dies Wesen, merkwürdig unvital, unschuldig wie ein Kind und weise wie ein Greis, der nie wirklich gelebt hat, kommt aus einer anderen sehr engen Welt, von einem anderen winzigen Planeten. Diese Welt beinhaltet außer drei Vulkanen – davon einer wahrscheinlich erloschen – nur eine Rose, die offensichtlich sehr schön, aber empfindlich, leidend und sehr seiner bedürftig ist. Sie hat zwar Dornen, aber er glaubt, dass sie dadurch nicht vor den wilden Tieren geschützt ist – die es auf dem kleinen Planeten eigentlich gar nicht gibt!
Die Schlote der Vulkane werden täglich gereinigt, daher sind sie harmlos. Sie können nicht explodieren – ejakulieren? Der kleine Prinz kann sie gefahrlos als Sitzgelegenheit verwenden.
Gefährlich sind dagegen die Samen der Affenbrotbäume, da sie wachsen können und durch ihre Kraft diese kleine Welt zerstören könnten. Sorgsam muß der kleine Prinz daher jeden Tag aufs Neue die Samen der Affenbrotbäume entfernen, um seinen kleinen Planeten nicht zu gefährden. Dessen Winzigkeit bietet allerdings den unglaublichen Vorteil, 365 mal an einem Tage den Sonnenuntergang zu beobachten, was unserem Prinzen eine tiefe – wenn auch melancholische – Freude bereitet.
Aus einer unbestimmten Sehnsucht heraus – nach einem Freund? nach Leben? Nach sich SELBST? – verläßt der Prinz diese kleine Welt, besucht andere Planeten. Das schmerzliche, schuldbehaftete Gefühl, seine Rose allein ihrem ungewissen Schicksal anvertraut zu haben, liegt wie eine dunkle Wolke über ihm, beeinträchtigt seine Neugier, seine Fähigkeit sich auf Neues einzulassen.
Auf seiner Entdeckungsfahrt begegnet er „den Erwachsenen”: dem König, dem Säufer, dem Geschäftsmann. Sie werden alle als sehr einsam, selbstbezogen, irgendwie traurig, und sehr sonderbar beschrieben. So landet er schließlich auf dem Planeten Erde. Auch hier sind die Menschen sonderbar. Bedeutsam ist allein die Begegnung mit dem Fuchs und mit der Schlange.
Der Fuchs lehrt ihn, was es heißt, jemanden zu zähmen: sich jemanden vertraut zu machen, so dass der andere einzigartig wird und man für immer für ihn verantwortlich ist.
Und er verrät ihm ein Geheimnis: man sieht nur mit dem Herzen gut.
Schmerzlich wird ihm bewußt, dass er die Rose gezähmt hatte – oder sie ihn? – und dass er sie alleine gelassen hat, dass er nicht zu seiner Verantwortung gestanden ist. Das verstärkt offensichtlich sein Gefühl von Schuld.
Und die Schlange verrät ihm, dass sie genug Gift hat, um ihn sicher und ohne große Schmerzen in eine andere Welt – zurück zu seinem kleinen, engen Planeten? – zu bringen.
Und der kleine Prinz entschließt sich, dieser Welt mit ihren sonderbaren Erwachsenen den Rücken zu kehren.
Bei allem Respekt für Saint Exupery wage ich die folgende Deutung:
Der kleine Prinz ist klein, das heißt wohl, nicht erwachsen geworden. Und er ist ein „Prinz”, das heißt: anders als die gewöhnlichen, die normalen Menschen.
Wenn man aber genauer hinsieht, wenn man den Zauber durchschaut, ist der kleine Prinz nie aus der engen Welt der symbiotischen Verschmelzung mit seiner Rose herausgekommen. Er ist gebunden an die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit eines schönen weiblichen Wesens: seiner Mutter und ihrer vielen Repräsentanten.
Für sie, die „Königin”, mußte er „Prinz” sein, das heißt, ihr alles ersetzen, was ihr fehlt, auch den Partner!
Das ist sein eigentlicher Lebenssinn. Er konnte nicht wirklich Kind sein. Denn ein kraftvoller, handlungsfähiger Vater fehlte offenbar. Allenfalls wird er, bis zur Unkenntlichkeit karikiert, von den sonderbaren Erwachsenen auf den anderen Planeten repräsentiert.
Der „Rose” treu verbunden, darf er nicht wachsen, muß die Samenkörner der kraftvoll wachsenden Affenbrotbäume, die diese enge Welt der Symbiose zerstören könnten, rechtzeitig entfernen, bevor sie virulent werden. Er muß seine eigene Kraft, seinen Verstand, seine Männlichkeit, unterdrücken. Die vulkanische Kraft – Sexualität – verkommt zu einer… Sitzgelegenheit.
Aus einer unbestimmten Sehnsucht – nach Kontakt, nach Lebendigkeit, nach sich SELBST? – verläßt er zwar die Rose, aber so, als sei das eigentlich gar nicht erlaubt. Und er bleibt ihr insofern treu, indem er nur sonderbaren Erwachsenen begegnet, die so wenig attraktiv sind, daß sie seine Bindung an die „Rose” nicht gefährden können. Resigniert und voller Schuldgefühle muß er einsehen, daß seine Rose einzigartig ist. Voller Reue kehrt er der Welt den Rücken und zu ihr zurück.
Eine – allerdings sehr besondere – der vielen Variationen zum Thema „Hänschen klein….”!
Die fantasierte Begegnung des Autors mit dem „kleinen Prinzen” ist vielleicht eine Wiederspiegelung des geliebten Bruders, der ihn so früh verließ, Ausdruck einer melancholischen Sehnsucht nach ihm..
Gleichzeitig scheint er so etwas wie ein „alter ego” des Autors zu sein.
Der Autor versteht es, die Not einer – seiner eigenen? – symbiotischen Verwirrung mit bemerkenswerter Raffinesse umzudeuten. Die männliche Kraft, Rationalität und Handlungsfähigkeit wird abgewertet und denunziert, ihr Fehlen dagegen hochstilisiert zu einer vorgeblichen Weisheit: „man sieht nur mit dem Herzen gut”!
Der Suizid, der Tod wird poetisch umgedeutet und verharmlost.
Ist es ein Wunder, daß die vielen von Symbiose Betroffenen diese verklärende Umdeutung ihres Leids geradezu süchtig verschlingen, verinnerlichen? Sie fühlen sich in ihrer Tendenz bestätigt, der unbequemen Realität der Erwachsenen, mit der Notwendigkeit, sich auseinander zu setzen, sich zu entscheiden, zu handeln, auszuweichen, ja sie zu leugnen. Das macht es ihnen leichter, sich in einer schönen, „besseren” Scheinwelt einzurichten, in der sie sich selbst als verkannten kleinen Prinzen – Prinzessin – verstehen können.
Wie gekonnt diese Verpackung gelungen ist, wird daraus ersichtlich, daß diese Geschichte – in therapeutischer Absicht! – von Patienten einer psychiatrisch- psychotherapeutischen Klinik aufgeführt wurde!
Dies Buch ist kein Kinderbuch, obwohl es sich so treuherzig gibt. Kinderbücher, wie z.B. Michel aus Lönneberga von Astrid Lindgren spiegeln die Liebe, die Fantasie, aber auch die Vitalität, die nicht zu bremsende Neugier, das Authentische, Unangepaßte, auch die Grausamkeit der Kinder wieder. Gerade in einem solchen Vergleich wird die blutleere Blässe, das Morbide des „Kleinen Prinzen” deutlich.
Es ist ein Buch des – falschen? – Trostes für Menschen, die sich nicht aus der Symbiose ablösen konnten, die noch gebunden sind, nicht zu sich selbst, ihrem vitalen Potential gekommen sind.
Dieses Buch ist gefährlich, wie eine Droge.
Wenn es eine spezielle Liste für „jugendgefährdende Literatur” gäbe, für die nicht erwachsen gewordenen bis 85, dann gebührte diesem charmanten Büchlein darauf der erste Platz.
Diese Idee ist natürlich absurd, genauso wie die Vorstellung, auf die Verpackung zu schreiben: Vorsicht, Lebensgefahr, diese Praline kann tödlich sein!
München, 23.01.2008 (Erstfassung)