Ein Diskussionsbeitrag
SYMBIOSE UND SELBST-ENTFREMDUNG
Eine neue Sichtweise der Symbiose macht den Zusammenhang von symbiotischem Beziehungsmuster und Selbst-Entfremdung deutlich.
Symbiose, genauer destruktive Symbiose beinhaltet eine unangemessene Tendenz, mit dem anderen zu verschmelzen, sich ihm anzupassen, sich mit ihm, seiner Wahrnehmung, seinen Wünschen und Bedürfnissen, seinen Vorstellungen und Gedanken, aber auch mit seinem Leid zu identifizieren. Abhängig werden – und abhängig machen, manipuliert werden und selber manipulieren.
Durch systemische Aufstellungsarbeit werden Generationen-übergreifende Verstrickungen deutlich. Diese können auch als Ausdruck einer Generationen-übergreifenden, einer kollektiven Symbiose verstanden werden.
In einem symbiotischen Kollektiv gibt es keine Grenze mehr. Ein „unbewusstes Abgrenzungs-Verbot“ wird sichtbar. Das hat zur Folge, dass der „Innere Raum“ des Einzelnen überflutet wird von fremden Inhalten: den Vorstellungen, Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen zunächst der Eltern, später des Gegenüber, mit denen sich der Betroffene identifiziert, als seien es seine eigenen. So entsteht eine „falsche Identität“, ein „ilusionäres Ich“. Für die eigene Identität, für das eigene „Selbst“ – genauer für bestimmte Selbst-Anteile – gibt es keinen Raum mehr.
Diese beiden Dynamiken, symbiotische Anpassung und Entfremdung von Selbst-Anteilen gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Münze. Und sie verstärken sich gegenseitig im Sinne eines Teufelskreises, einer Falle.
Das Leid der Symbiose
Diese Doppeldynamik macht das facettenreiche Bild der Symbiosemuster verständlich:
Die Identifikation mit Fremden zusammen mit einer Selbst-Entfremdung führt
- zu einer Verwirrung der eigenen Identität,
- zu einem Verlust der eigenen Orientierung, das bewirkt eine Tendenz
- zu Fremd-Orientierung und Anpassung.
Das symbiotische Kleben an fremden, „verinnerlichten“ Vorstellungen, Gefühlen, Bedürfnissen erschwert den Zugang zu sich selbst, aber auch umgekehrt. Der fehlende Zugang zu sich selbst verstärkt die Tendenz zur Fremdorientierung. Ein Teufelskreis!
Der Verlust der Grenze ist verbunden mit einer Blockierung des angeborenen Schutzreflexes. Das natürliche aggressive Potential, das sich konstruktiv in einer gesunden Abgrenzung entfalten könnte, wird blockiert und staut sich an, wird destruktiv.
Die Wut über das „nicht gelebte eigene Leben“ erhöht zusätzlich das Aggressionspotential, welches andere, destruktive Wege geht:
Es entlädt sich entweder in Ablehnung, Verlust der Achtung, Streit, unkontrollierten Ausbrüchen von Hass und Gewalt nach aussen. Das kann als verzweifelter Versuch einer (Über-) Abgrenzung verstanden werden, da eine konstruktive Abgrenzung nicht zur Verfügung steht..
Oder es richtet sich nach innen, gegen das „Selbst“, Ursache für Stress, für seelische Störungen – Depression, Verwirrung – und körperliche Krankheit.
Das „Abgrenzungsverbot“ erschwert Trennung und Abschied, nicht selten bewirkt es ein Leugnen des Todes. Wird eine symbiotische Bindung über den Tod hinaus aufrecht erhalten – als könne man dadurch den Abschiedsschmerz vermeiden? – dann erschwert dies “Anhaften“ an Verstorbene das Einlassen auf das eigene Leben, auf eine neue Beziehung.
Das Leben verliert an Lebendigkeit, wird schwer und freudlos.
DAS BUDDHISTISCHE VERSTÄNDNIS VON LEID
Der Buddhismus ist eher eine Lehre als eine Religion. Seit über 2000 Jahren versuchen buddhistische Lehrer, die Ursachen menschlichen Leides zu ergründen und sie haben in unterschiedlichen „Schulen“ unterschiedliche Vorstellungen und Wege zur Lösung entwickelt.
Ich kann hier nicht tiefer in die sehr komplexe buddhistische Lehre eindringen, möchte nur einige Aspekte hervorheben, die für diese Überlegungen wichtig sind..
Ursache des Leids
Als Ursache von Leid wird das Bedürfnis verstanden, die Dinge unbewußt zu „ergreifen“, sich mit ihnen zu identifizieren in dem Glauben, dass sie wahrhaft „Ich“, „mein“ oder „mein selbst“ seien, an ihnen zu „haften“.
Das erinnert an das unbewußte symbiotische Phänomen des „falschen Ich“, an das Verklebt sein mit fremden Inhalten!
Als die drei Aspekte des Leids – die drei „Geistesgifte“- werden Unwissenheit, daraus abgeleitet Anhaftung(Gier) und Ablehnung(Hass) verstanden.
Auch hier kann man Parallelen zum Symbiosekonzept sehen:
Unwissenheit entspricht dem Aspekt des Unbewußten,
Anhaftungen entsprechen dem Phänomen der symbiotischen Verklebungen (Identifikationen) –mit Personen, Vorstellungen, Gefühlen, Bedürfnissen, aber auch die Abhängigkeit von Surrogaten.
Ablehnung(Hass) entspricht dem Phänomen der Überabgrenzung.
BUDDHISTISCHE WEGE ZUR BEFREIUNG
Das Loslassen des „illusionären Ich“ ermöglicht die Erfahrung eines Ungetrennt-Seins, eines Eins-Seins mit dem Hier und Jetzt, mit dem Ganzen.
Bemerkenswert scheint mir, dass im Buddhismus neben dem Lösen von „Anhaftungen“ auch Selbst-Entfremdung und -Wiederannährung als zentrales Thema gesehen werden.
Als Beispiel dafür möchte ich die folgende Parabel des chinesischen Chan-Meister Kuoan Shiyuan (um 1150) zitieren, die in zehn Bildern den spirituellen Weg eines Zen-Buddhisten beschreibt. Für unseren Zusammenhang wichtig: Der Ochse kann als Bild für das „eigentliche, tiefe Selbst“ und der Hirte „für den Mensch schlechthin“ verstanden werden (Dumoulin).
Der Ochse und sein Hirte
„Der Hirte hat den Ochsen verloren und steht allein auf weiter Flur (1. Bild), aber kann der Mensch sein Selbst verlieren? Er sucht und erblickt die Spur des Ochsen (2. Bild), es gibt eine Vermittlung, eine Hilfe, bei der auch religiöse Übungen eine Rolle spielen können. Den Spuren nachgehend, findet er den Ochsen (3. Bild), aber noch ist es nur ein fernes, intellektuelles Wissen oder intuitives Fühlen um den Ochsen, er zähmt das Tier mit heißem Bemühen (4. Bild) und weidet es mit sorgfältiger Wachsamkeit (5. Bild). Diese zwei Stufen beinhalten die Übung in der Zen-Halle, die harte, peinvolle Übung bis zum Erfassen der Erleuchtung und die unabdingbare Übung des Erleuchteten. Der Übende erlangt volle Sicherheit, schon schwingt sich der Hirte auf den Rücken des Ochsen und kehrt, die Flöte spielend, triumphierend heim (6. Bild), die Freude des Hirten und der erhobene Kopf des schon nicht mehr nach Gras gierenden Tieres zeigen die erlangte volle Freiheit an. Beide sind nun eins, der Hirte in seiner Freiheit bedarf nicht mehr des «Ochsen», er vergißt ihn. So ist der Hirte allein, ohne den Ochsen (7. Bild). Nun verschwinden beide, Ochs und Hirte, im gründenden und umfassenden Nichts des Kreisrunds (8. Bild). Wenn der Hirte wieder erscheint, sind alle Dinge um ihn so, wie sie sind (9. Bild) – der Alltag des Erleuchteten. Und der Hirte kommt herein in die Stadt und auf den Markt und beschenkt alle ringsum (10. Bild). Der Erleuchtete lebt mit allen seinen Mitmenschen und wie alle seine Mitmenschen, aber die Güte, die er ausstrahlt, rührt von seiner Erleuchtung her.“
Heinrich Dumoulin: Geschichte des Zen-Buddhismus. Band I: Indien und China. Francke-Verlag, Bern 1985. S. 261 ff.
DER LÖSUNGS-WEG DES INITIATISCHEN FAMILIENSTELLENS
Eine modifizierte Form des Familienstellens – das „Initiatische Familienstellen“ – versucht, konsequent die doppelte, sich gegenseitig verstärkende Dynamik von kollektiver Symbiose und Selbst-Entfremdung für eine nachhaltige Lösung einzusetzen.
Der Klient stellt sich und Stellvertreter für die Eltern auf und einen weiteren Stellvertreter für seine ungelebten Selbst-Anteile auf, sein „Selbst“. Meist steht es weit entfernt, spürt wenig Verbindung zum Klienten.
Als nächstes wird dem Klienten das Phänomen seiner unbewussten symbiotischen Verklebung mit einem oder beiden Eltern sichtbar und dadurch bewusst gemacht:
-Er steht buchstäblich im Elternteil, aber auch umgekehrt,
-er kennt nicht den Unterschied zwischen sich und dem anderen.
-Es gibt keine Grenze zwischen ihm und dem Elternteil,
-sein innerer Raum – wenn überhaupt spürbar – ist überschwemmt von fremden Inhalten: Leid,Trauer, Schuld, aber auch Vorstellungen, Wertungen der Eltern.
-Für sein „Selbst“, für seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse war buchstäblich kein Platz. Es wird deutlich, dass der Klient selbst, um sich besser an die Erwartungen der Eltern anzupassen, sein „Selbst“ „vor die Türe geschickt hat“, um es zu schützen oder weil es die Eltern stört.
Der zentrale Ansatzpunkt für die Lösung des Symbiose-Musters scheint das verinnerlichte Abgrenzungsverbot und der dadurch bedingte Verlust eines „Inneren Raumes“ zu sein.
Wenn der Klient wieder Zugang zu seinem „Selbst“ finden möchte, muß er aus der symbiotischen Verschmelzung mit den Eltern „aussteigen“, er muß bereit sein, sein unbewußtes Abgrenzungsverbot zu überwinden und in einem Abgrenzungsritual buchstäblich den „Symbiosepartner“ aus seinem inneren Raum schieben. So kann wieder eine Grenze entstehen, die seinen inneren Raum schützt.
Das ist die entscheidende Voraussetzung für die Annäherung an sein „Selbst“.
In der aktiven Abgrenzung öffnet sich wieder der konstruktive Kanal für sein natürliches aggressives Potential. Es kommt zu einer Richtungsumkehr der Aggression, statt destruktiv gegen sich, konstruktiv in die Abgrenzung, nach aussen.
Mit diesem Prozess ist eine tiefe Erleichterung, Befreiung verbunden.
Das („wahre“) Selbst hat, im Unterschied zum „falschen Ich“, eine Verbindung zu einem Grösseren.
Das Wieder-Verbinden mit dem Selbst ermöglicht anscheinend Mitgefühl und bedingungslose Liebe – im Unterschied zum Mitleiden, der Aggressionshemmung und der manipulierenden Liebe der symbiotischen Bewußtheitsstörung.
Manche Kursteilnehmer berichten von einem noch nie gekannten tiefen inneren Frieden, von der Erfahrung, ganz bei sich zu sein und gleichzeitig den Augenblick mit allen Sinnen auf eine bisher unbekannten Intensität wahrzunehmen.
GEMEINSAMKEITEN
Gemeinsam ist beiden Sichtweisen die Vorstellung, dass das Kleben an einem illusionären Ich und die fehlende Verbindung mit dem „Selbst“ die entscheidende Ursache für Leid ist.
In der Zen-Geschichte vom Hirten und Ochsen geht es in den ersten sechs – von zehn – Bildern um das Finden, Zähmen und Eins-Werden mit dem Ochsen, der als das „eigentliche tiefe Selbst“ verstanden werden kann.
Aus Sicht des Initiatischen Familienstellens gibt es eine aparte Variante: der Klient selbst hat, um zu überleben, sein „Selbst“ vor die Türe gestellt. Er hat seinen „Ochsen“ selbst versteckt!
Gemeinsam ist auch die Forderung nach einer gezielten Schulung der Wahrnehmung, um die Anhaftungen zu lösen, und die Erfahrung eines „Erwachens“ nach einer gelungenen Lösung.
Wenn Klienten nach einer gelungenen Lösung das Gefühl haben, ganz bei sich, im Augenblick zu sein, eine offene Wahrnehmung und Mitgefühl für die anderen zu haben, dann erinnert das an die Erfahrung des „Erwachens“.
…und Unterschiede
Der Hirte scheint zunächst, in seiner vertrauten Umgebung, seinen Ochsen gar nicht zu vermissen, so als sei er gar nicht wichtig. Der Ochse hat den Charakter des Ungezähmten, Unangepassten, und hält sich dem entsprechend in der Wildnis auf. Der Hirte muss daher die vertraute Umgebung verlassen.
Bemerkenswert ist, dass in der ZEN-Parabel das Thema Anhaftungen nicht auftaucht(!?) und dass der Hirte den Ochsen fangen, mit ihm kämpfen, ihn zähmen muss.
Aus der Sicht des Initiatischen Familienstellens ist auch ein Kampf erforderlich, aber an einer anderen „Front“.
Das „falsche Ich“ trennt uns von zentralen Anteilen unseres „Selbst“. Um das „Selbst“ wieder vollständig werden zu lassen, genügt aber nicht ein blosses „Loslassen“ des illusionären Ich. Im Initiatischen Familienstellen wird deutlich, wie hilfreich, ja geradezu unentbehrlich eine aktive Abgrenzungbewegung ist, in der das „verinnerlichte Abgrenzungsverbot“ bewusst gemacht und gelöst werden kann. In diesem Kampf geht es darum, den „inneren“ Raum von all’ dem zu befreien, was ihn besetzt hat, an dem man haftet, als sei man damit identisch.Mehr noch: So wird auch das aggressive Potential wieder konstruktiv eingebunden.
Im Bilde der ZEN-Geschichte: der Hirte räumt den angestammten Raum des Ochsen frei, in dem dieser sich zuhause fühlen kann, etwas von seiner Natur behalten darf, ohne sich völlig anpassen zu müssen.
Die Bilder sieben bis zehn beschreiben weitere Entwicklungsschritte, es gibt keinen Ochsen – und keinen Hirten – mehr, am Ende erscheint der Erwachte auf dem Marktplatz, lächelnd, in zerrissenem Gewand, mit geöffneten Händen.
Die vollständige Identifikation mit dem Selbst?
Oder dessen Überwindung? Das Selbst als Illusion?
Oder ist beides das Gleiche?
Eine wichtige Unterscheidung
Wie auch immer.
Problematisch scheint mir als Psychotherapeut, dass die Vorstellungen von der „Illusion eines Selbst“ von westlichen Buddhismus-Schülern häufig so miss-verstanden werden, da sie ihre eigene symbiotische Unabgegrenztheit mit einer Art spirituellen Ungetrenntseins, mit einer Vorform von Erleuchtung verwechseln. Und dass sie das Fehlen eines „Selbst“ und des damit verbundenen (gesunden) Egoismus bereits für die Überwindung des Selbst halten. Dass sie ihre fehlende – unterdrückte – Aggression bereits für bedingungslose Liebe und ihr unabgegrenztes Mitleiden bereits für Mitgefühl halten.
Anstatt sich auf die Suche nach ihrem „Selbst“ – ihrem „Ochsen“ – zu machen, ihn zu finden und zu zähmen, „überspringen“ sie die Stufen eins bis sechs der Ochsen-Parabel. Sie üben sich darin einen Ochsen los zu lassen, den sie noch gar nicht gefunden, geschweige denn gezähmt haben.
Das ist nicht nur komisch. Spirituelle Übungen, welche die Grenzen auflösen, das Unterdrücken „negativer Gefühle“ verstärken, können für sie gefährlich werden.
Sie können dadurch sogar in eine Psychose geraten.
Die Verwechslung von prä- und trans-personal
Hilfreich erscheint mir hier die Vorstellung des Philosophen Ken Wilber, der in seinen „Stufen des Bewußtseins“ einen präpersonalen von einem transpersonalen Zustand unterscheidet, und davor warnt, diese beiden Bewußtseins-Zustände mit einander zu verwechseln.
Ausgeprägte symbiotische Muster könnte man dem präpersonalen Zustand zuordnen. Für diese Menschen wären alle die Übungen hilfreich, die sie mit ihrem Körper, mit dem Boden, mit ihren „negativen Gefühlen“ und mit ihren Grenzen („mit dem Ochsen“) in Verbindung bringen.
Das „initiatische Familienstellen“
Um die Stufen eins bis sechs der Ochsen-Parabel zu bewältigen, scheint das „initiatische Familienstellen“ eine geeignete und sehr wirksame Übung zu sein.
- Es macht dem Klienten die unbewußten Identifizierungen und Verklebungen deutlich, – „illusionäres Selbst“- die ihn verwirren, von seinem „Selbst“ trennen.
- Er kann sich aktiv von dem Fremden, das ihn überflutet hat, schützen.
- Es erlaubt ihm, seinen „Inneren Raum“ wieder wahrzunehmen und zu befreien.
- Es entsteht wieder Raum für sein Eigenes, sein SELBST.
- Der Zugang zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen öffnet auch sein Mitgefühl für Andere.
Für jeden Lösungsschritt ist die bewußte Entscheidung des Klienten gefragt.
Das stärkt den Teil in ihm, der sich entscheiden kann, der Verantwortung übernehmen kann.
Robert Langlotz, München, 21.05.08 (Erstfassung)