FALLBEISPIEL

Beatrix (Name geändert) kommt mit dem Anliegen, dass sie mit 40 Jahren immer noch nicht ihren Platz im Beruf gefunden habe.

Um für sie eine Lösung zu finden, schlage ich das neue Format der Systemischen Selbst-Integration “Problem als Schlüssel zur Lösung“ vor. Dies Format geht von zwei Grundannahmen aus:

1. Jeder hat ein „Selbst“, das in der Lage ist, ein bestimmtes Problem angemessen zu lösen.

2. Wenn jemand ein Problem hat, dann ist seine Verbindung zu diesem „Selbst“ blockiert durch ein „Blockierendes Element“ (BE).

Klient*in kann dann selber untersuchen, was sich hinter dem BE verbirgt. Oft erweist sich das BE als „Introjekt“: als ein übernommenen Glaubenssatz, oder ein traumatisches Ereignis aus ihrer eigenen Biografie, oder aus ihrem Familiensystem.

AUFSTELLUNG

Beatrix stellt einen Hocker – Repräsentant des BE – zwischen sich und einer Repräsentantin ihres Selbst.

„Wenn du davon ausgehst, dass das BE hier und heute nicht in deinen Identitäts-Raum gehört, dann kannst du mit diesem Schal die Grenze deines Raumes so markieren, dass das BE ausserhalb und dein Selbst innerhalb des Raumes ist.“

Beatrix nimmt diesen Vorschlag auf, merkwürdigerweise vermisst sie jetzt das BE, so als sei sie jetzt unvollständig. „Willst du es wieder zurück – oder möchtest du erforschen, was dahinter steckt?“ Beatrix folgt nicht ihrem – offensichtlich verwirrten – Gefühl, sondern ihrem Verstand.

Beatrix stellt sich auf den Platz des BE, spürt nach und wird ganz traurig und schwer. Ihr fällt ein, dass ihre Mutter aus Tschechien geflohen ist. Dort hatte sie eine akademische Ausbildung zu einem Beruf abgeschlossen, den sie gerne gemacht hätte. Aber in Deutschland konnte sie diesen Beruf nie ausüben. Die Ausbildung wurde nicht anerkannt und sie bekam bald Kinder und war dadurch gefordert.

Nun ist es Beatrix möglich, das BE genauer zu benennen, und zwar als „Mutters Berufstrauma“. Sie stellt es noch einmal in ihren Raum. Das Gefühl kennt sie. Und obwohl es ihr schwer fällt, entscheidet sie sich dazu, gezielt dies Introjekt aus ihrem Raum heraus zu stellen: „Du bist das Berufstrauma meiner Mutter, du gehörst nicht in meinen Raum“.

Erst jetzt spürt sie eine Anziehung zu ihrem Selbst, und kann mit ihm verschmelzen – statt mit Mutters Trauma.

Zum Abschluss grenzt sie sich gegenüber dem Trauma ab, und kann in der Gegenabgrenzung körperlich spüren, dass sie nichts im „Raum“ von Mutters Trauma zu suchen hat. Sie spürt wieder einen inneren Widerstand, aber auch die Befreiung, als sie diese Schritte vollzogen hat.

HYPOTHESE ZUR DYNAMIK

Das Phänomen, dass Klient*in das BE gar nicht „hergeben“ möchte, ist sehr häufig. Sie hält das BE fest, wie einen Schatz – obwohl es für ihr Leid verantwortlich ist.

Meine HYPOTHESE zu dieser unbewussten Dynamik: wenn ein Kind den Schmerz der geliebten Mutter über dies Trauma hautnah (ohne Abgrenzung!) mit-leidet, dann entsteht beim Kind der Gedanke: wenn ich das Leid der lieben Mutter schon nicht ändern kann, dann will ich es wenigstens teilen. Der Wunsch, Mutters Leid zu teilen wird zum Ausdruck für die Liebe zur Mutter. Und dieser Gedanke wirkt dann – unbewusst – wie ein Vorsatz, wie ein Gelübde und bestimmt das eigene Schicksal! Und sich von diesem Schicksal abzugrenzen fühlt sich dann an wie lieblos, wie Verrat an der Mutter! Dies Gefühl des Verbotes hat bisher verhindert, dass Klient*in sich von diesem BE verabschieden kann. Das eigene Leid wird so zum Ausdruck der liebevollen Verbindung mit der Mutter.

Offensichtlich handelt es sich hier um eine unbewusste VERMISCHUNG von der Liebe zur Mutter mit ihrem Leid. Und dieser VERMISCHUNGS-KOMPLEX wird als Introjekt in den eigenen „Identitätsraum“ genommen. Er wird zum blockierenden Element und generiert das Problem.

Für die LÖSUNG ist es entscheidend

die Vermischung von Liebe zur Mutter und Mutters Leid zu erkennen und durch Unterscheidung aufzulösen. Dann erst ist es möglich, sich von dem von Mutter übernommenen Leid zu verabschieden, OHNE die Liebe zur Mutter zu „verraten“.

SEGEN

Erleichtert wird dieser Prozess durch die Erkenntnis, dass diese Dynamik die Eltern nicht froh macht, sondern traurig. Das kann im Aufstellungsprozess verdeutlicht werden durch das Ritual des Segens. Die Mutter – sei sie verstorben oder noch im Leben – berührt mit den Fingern den Kopf der Klient*in: „ich gebe dir gerne meinen Segen. Lebe dein Leben, lebe Deine Kraft, lebe deine Liebe. Du bist frei.“

SYMBIOSE UND DIFFERENZIERUNG

Deutlich ist der Symbiose-Aspekt dieser Dynamik, und dass die Lösung UNTERSCHEIDUNG und ABGRENZUNG erfordert.

Das scheint mir eine inhaltliche Präzisierung zu sein, zu dem, was der amerikanische Pionier der Systemtherapie MURRAY BOWEN mit DIFFERENZIERUNG DES SELBST meint. (Diesen Hinweis verdanke ich P. Kutzelmann)

28.6.2017