Beitrag zum Verständnis und zur Lösung

Einführung

Die psychotherapeutische Arbeit mit Stellvertretern (Jacob Levy Moreno, Virginia Satir) ermöglicht es auf elegante Weise, familiäre Beziehungsmuster sichtbar und dadurch bewußt zu machen und – quasi experimentell – Lösungsstrategien zu entwickeln, die den Klienten zu einem persönlichen Wachstum befähigen.
Bert Hellinger hat diesen Ansatz verbunden mit der Generationen übergreifenden Sichtweise Boszormenyi-Nagy´s. Er hat besonders auf das sehr verbreitete Phänomen hingewiesen, dass Kinder unbewußt Schicksale vergessener, verstoßener oder früh verstorbener Familienmitglieder nachahmen – „Identifizierungen” – und deshalb „nicht an ihrem Platz stehen”. Das Wahrnehmen und Lösen derartiger Identifizierungen ist geeignet, den Klienten aus symbiotischen Mustern zu befreien und mehr zu sich selbst zu bringen.
Auch Hellingers Formulierungen “im Dunstkreis der Mutter” bzw. “Mutter-Sohn” und “Vater-Tochter” können als Bezug auf symbiotische Phänomene gesehen werden. Bestimmte Lösungsstrategien scheinen geeignet, symbiotische Muster zu lösen. Das Überwinden der „blinden” – symbiotisch-nachahmenden – Liebe durch eine „sehende Liebe” – welche den Unterschied, die Distanz, die Abgrenzung wahrnehmen läßt, oder die Ablösung des „kollektiven Gewissens” durch das persönliche Gewissens Ist das nicht die „wirksame Essenz” des Familienstellens: Die Befreiung aus symbiotischen Verstrickungen, das Finden zum eigenen Platz, zur eigenen Identität, zum eigenen Selbst?!
Allerdings sind Hellingers etwas eigenwiligen Begriffe geeignet, diese günstige Wirkung zu mindern. Mir scheinen die Begriffe „blinde Liebe” – statt symbiotische Anpassungstendenz – und „Sippengewissen” – anstelle symbiotischer Anpassungsdruck- irreführend.
In meiner Aufstellungsarbeit mir psychiatrischen Patienten hat sich gezeigt, dass das Symbiosemuster mit seinen unterschiedlichen Aspekten eine zentrale Rolle spielt und daß das Familienstellen in einer modifizierten Form hervorragend geeignet ist, diese Zusammenhänge zu studieren, dem Klienten bewußt zu machen und neue Lösungsstrategien zu entwickeln.

Die Tendenzen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, dessen Gefühle und Gedanken und Bedürfnisse zu erspüren – und ungefragt zu erfüllen! -, sich dem Gegenüber symbiotisch anzupassen, von ihm abhängig zu machen, mit ihm zu verschmelzen, werden unzutreffend oft als Ausdruck einer (selbstlosen!) Liebe verstanden. Sie sind jedoch Folge einer fehlenden Abgrenzung, eines unbewußten, verinnerlichten Abgrenzungsverbotes und immer verbunden mit einer Abspaltung vitaler Selbstanteile wie Aggression, Wahrnehmung eigener Gefühle und Bedürfnisse. Das bedingt einen Verlust von Selbstregulation und autonomer Orientierung und verstärkt wiederum die Tendenzen, sich an Andere anzupassen, im Sinne einer Außenorientierung, einer Fremdbestimmung.
Diese Dynamiken sind miteinander verschränkt, verstärken sich gegenseitig und machen die Symbiose zur Falle, die sich therapeutisch oft nur schwer oder gar nicht lösen läßt.
Die Einbeziehung eines Repräsentanten für die abgespaltenen Selbstanteile in Gestalt des SELBST macht die komplexen Dynamiken auf einfache Weise deutlich und ermöglicht neue Lösungsstrategien, die sich durch Wirksamkeit, Nachhaltigkeit und Eleganz auszeichnen.

Das SELBST erweist sich dabei in dreierlei Weise als äußerst hilfreich:
Es stellt eine unglaubliche Ressource dar, die immer (!) vorhanden ist und näher als der Klient – und der Therapeut! – glaubt!
Es beschleunigt wie ein Katalysator die Lösung der Symbiose.
Der Stellvertreter des Selbst spiegelt durch die Veränderung seiner Wahrnehmung den Fortgang des Lösungsprozesses.

Das soll an drei Fallbeispielen verdeutlicht werden.

Fallbeispiel I

Workoholic
J. 24 Jahre alt arbeitet erfolgreich in einem größeren Industrieunternehmen.
Sein Problem: er kann seine Freizeit buchstäblich nicht ertragen, füllt sie durch Arbeit aus. Darunter leiden nicht nur private Beziehungen – er hat keine Partnerin – er zeigt bereits Zeichen eines Burn-out-Syndroms, die Arbeitssucht wird durch zunehmenden Alkoholgenuß kompliziert.

Familienanamnese: der Vater, Kleinunternehmer mit 60 Stunden-Woche, hat seinen eigenen Vater mit 18 verloren. J. – der erste von zwei Söhnen – arbeitet seit früher Kindheit wie selbstverständlich im väterlichen Betrieb mit.

Aufstellungsbild
J. stellt mit Repräsentanten auf: den Vater, sein „Selbst” etwa 6 Schritte entfernt, abgewandt vom Vater und sich – in eigener Person – dicht neben den Vater.
Der „Vater” (Stellvertreter) blickt in die Ferne, spürt zum Sohn wenig Verbindung. Der Sohn spürt starke Verbindung zum Vater, gar keine Verbindung zu seinem „Selbst”, im Gegenteil, er empfindet es als beunruhigend.
Das „Selbst” spürt überhaupt keine Verbindung zu den übrigen Personen.

Lösungsprozeß
Der Leiter stellt in Blickrichtung des „Vaters” einen Stellvertreter für dessen früh verstorbenen Vater, den Großvater von J. auf.
Das verändert die Gefühle des „Vaters”, er spürt eine starke Verbindung zu seinem „Vater”, die Verbindung zum Sohn läßt entsprechen nach.
J. spürt Trauer – die Trauer des Vaters?
Der Leiter läßt den „Vater”, seinem Bedürfnis entsprechend, zum „Großvater” gehen. Sie blicken sich an, spüren die Verbindung, können sich in einer Umarmung voneinander verabschieden.

Der Leiter vermutet, dass der Vater einem Teil seines Selbst durch den frühen Tod seines Vaters entfremdet wurde, z.B. indem er für die Mutter und die jüngeren Geschwister die Rolle des Vaters übernehmen mußte.

Der „Vater” wendet sich – den „Großvater” an der Hand zu seinem Sohn und spricht zu ihm die vom Leiter vorgeschlagenen Sätze: „Das ist mein Vater, vielleicht war ein Teil von mir noch bei ihm, so daß ich nicht ganz bei mir, so daß ich nicht immer Vater für Dich sein konnte!”

Der Sohn ist sehr berührt, fühlt sich – erstmals? – von seinem Vater als Sohn gesehen.

Beziehungsklärung zum Vater
Der Leiter fragt J., ob es gegenüber dem Vater Vorwurf oder Mitleid gäbe, ob er seelische oder körperliche Gewalt erlebt habe. J. schüttelt verneinend den Kopf.

Parentisierung
Der Leiter läßt probeweise den Sohn den Platz des „Großvaters” einnehmen. An diesem Platz fühlt er sich wohl, kennt er sich aus.

Es wird deutlich, daß er versucht hat, dem Vater das zu geben, was dieser von seinem Vater nicht bekommen hatte. Kinder identifizieren sich mit dem, was Eltern unbewußt von ihnen erwarten, „in ihnen sehen” – „falsches Selbst” nach Winnicott. Dies ermöglicht zwar eine Pseudonähe zum Vater, aber um den Preis einer Beeinträchtigung des Selbstbildes. Diese symbiotische Überlebensstrategie ist verbunden mit einer Distanzierung zum eigenen („wahren”) Selbst.
Und die Illusion, dem Vater dessen Vater ersetzen zu können ist die Ursache für ein höchst brüchiges – „narzistisches” – Selbstwertgefühl, für das Schwanken zwischen unrealistischen Größenfantasien und der kränkenden Einsicht, diese nicht einlösen zu können. Bisweilen ist dies verbunden mit einem Gefühl schuldhaften Scheiterns.

Und Lösung
J. sagt zum „Vater” die vorgeschlagenen Sätze: „Vater, vielleicht wollte ich Dir den verstorbenen Vater ersetzen. Das ist verrückt. Das kann ich gar nicht. Ich bin dein lebender Sohn.”

Er läßt dem „Großvater” dessen Platz und stellt sich an seinen Platz, dem Vater gegenüber, erleichtert aber auch verunsichert.

Sein „Selbst” hat sich inzwischen umgedreht, blickt zu J., als ahne es die Chance einer Verbindung. J. seinerseits spürt zum „Selbst” noch keine Verbindung.

Symbiotische Verschmelzung
Als nächstes prüft der Leiter, wie sich J. am Platz seines Vaters fühlt, indem er ihn auffordert, sich an den Platz seines Vaters zu stellen.
J. strahlt. Hier ist er zuhause.

Die Arbeit mit Stellvertretern ermöglicht es, dem Klienten dies unbewußte Phänomen der symbiotischen Verschmelzung spürbar und dadurch bewußt zu machen. Er steht quasi „im Vater” drin, sieht die Welt und sich selber „durch Vaters Augen”. Gleichzeitig steckt der Vater in ihm drin. Vaters Überzeugungen, Gedanken, Gefühle nehmen seinen „INNEREN RAUM” ein – die Analytiker nennen das „Introjekt” – so daß sein Selbst buchstäblich keinen Platz mehr bei ihm hat! Sein „Innerer Raum” ist von seinem Vater „besetzt”. Das bedeutet unvermeidbar, dass er zu seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen keinen oder nur einen erschwerten Zugang hat. In der „Freizeit”, in seinen persönlichen Angelegenheiten ist er ohne „autonome” Orientierung.

Erster Lösungsversuch
Der Leiter erläutert J, dass er offensichtlich „blinder Passagier” auf Vaters Boot ist und deshalb nicht gleichzeitig „Kapitän auf seinem eigenen Boot” sein könne. Er fragt J, ob er „aus seinem Vater aussteigen” wolle, um zu sich selbst zu finden?
J. verneint durch heftiges Kopfschütteln.
Der Leiter ergänzt, dass offensichtlich sein „Innerer Raum” durch den Vater besetzt ist, so daß er keinen Platz für sein eigenes Selbst habe. Ohne sein Selbst könne er aber keine interessante Freizeit, könne er keine Beziehung haben.
J. schüttelt erneut verneinend den Kopf.

Abbruch
Der Leiter bemerkt, dass es offensichtlich für eine Lösung noch zu früh sei und fordert J. auf, die Repräsentanten aus ihren Rollen zu entlassen. J. blickt den Leiter erstaunt und ungläubig mit seinen großen Augen an. Der Leiter meint, er könne ja vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, wenn er innerlich bereit ist, den Lösungsprozeß durchmachen.
Etwas verunsichert entläßt J. die Repräsentanten aus ihren Rollen. Nur die Repräsentantin seines „SELBST” weigert sich, entlassen zu werden. Spontan sagt sie zu ihm: „Ich möchte, dass du das jetzt löst!!”

Ratlos blickt J. zum Leiter.
„Ich halte mich da raus, das mußt du mit deinem „Selbst” ausmachen.”

Noch etwas halbherzig stimmt er einer Lösung zu.

Lösung zweiter Teil
Um die symbiotische Verschmelzung mit dem Vater zu lösen, schlägt der Leiter J. folgende Sätze zum Vater vor: „Vater, Du bist Du und ich bin ich. Du hast Dein Schicksal, ich hab meines. Du lebst Dein Leben, ich lebe meines. Und ich bin Dein Kind!”
Da J. diese Sätze nur mühsam über die Lippen gehen, muß er sie zweimal wiederholen.

Rückgaberitual
J. gibt dem „Vater” dessen Schicksal, dessen Trauer – symbolisiert durch einen schweren Flußkiesel – zurück mit den Sätzen „Vater, das ist Deine Trauer, Dein Schmerz. Vielleicht habe ich es bis jetzt getragen, als wäre es meines. Ich sehe jetzt, dass es Deines ist. Es war Deine Art zu überleben und ich achte das, indem ich es ganz bei Dir lasse!
Der „Vater” kann den Stein nehmen. Für ihn sind folgende vom Leiter vorgeschlagenen Sätze stimmig: „Das ist meins und das muß bei mit bleiben” und „vielleicht konnte ich Dich nicht immer als meinen Sohn sehen, konnte nicht immer wie ein Vater für dich sein? Das hat nichts mit Dir zu tun!”

Abgrenzungsritual
Der Leiter weist J. darauf hin, dass offensichtlich die Grenze zwischen ihm und dem Vater nicht deutlich war, so dass es zu Grenzverletzungen, zu Übergriffen – von beiden Seiten? – kommen konnte. Um sich mit seinem Selbst zu verbinden, müsse er seinen „Inneren Raum” schützen, sogar gegenüber dem Vater. Ob er dazu bereit wäre?

J. blickt den Leiter ratlos an.

Hier wird das unbewußte „Abgrenzungsverbot” deutlich, dass immer bei symbiotischen Verschmelzungen zu finden ist. Selbst wenn es – wie hier – bewußt wird, ist es noch nicht gelöst!

Annäherung an das „Selbst”
Der Leiter weist J. auf sein „Selbst” hin, das sich inzwischen spontan auf ihn zu bewegt hat, und fragt ihn, wie es ihm jetzt mit seinem „Selbst” gehe?
Zum ersten Mal blickt J. mit Interesse und einer gewissen Neugier zu seinem „Selbst”. Der Leiter schlägt ihm folgende Sätze in Richtung auf sein „Selbst” vor: „Du bist der Teil von mir, der sich auch ohne Arbeit frei und lebendig fühlt, der zornig sein, der auch mal nein sagen kann!”

Der Leiter zu J: „kennst Du diesen Teil von Dir?”
J. ist überrasacht, er zögert, als müsse er sich lange besinnen, ob ihm eine Erinnerung komme.

„Magst Du es vielleicht einmal kennen lernen?”
J. blickt verlegen, als könne er das gar nicht glauben, als sei ihm das gar nicht erlaubt.

„Nur Du kannst es Dir erlauben – oder verbieten!”

J. macht einen Schritt auf sein „Selbst” zu, das ihn erwartungsvoll und freundlich anblickt, nimmt es vorsichtig bei der Hand, schaut es fragend an und……kann es vorsichtig umarmen.

Den „Inneren Raum” befreien
Der Leiter zu J.:
„Wenn Du mit Deinem Selbst verbunden bleiben willst, mußt Du Deinen inneren Raum frei machen, mußt deine Grenze schützen, sogar gegenüber Deinem Vater!”

Mit einer neuen Entschiedenheit nickt J. und blickt herausfordernd auf seinen „Vater”.
Der – ein großer kraftvoller Mann in den besten Jahren – „testet” J.´s Bereitschaft, sich zu schützen, indem er mit voller Wucht über J.´s durch einen liegenden Schal symbolisierte Grenze steigt. Bei seinem ersten Versuch gelingt es J. nicht, dem „Vater standzuhalten, geschweige denn ihn zurück zu schieben.

Hier wird wieder das verinnerlichte „Abgrenzungsverbot” sichtbar!

Der Leiter unterstützt J.: Es ist nicht nur Dein Recht, es ist eigentlich auch Deine Pflicht, Deinen inneren Raum zuschützen, um Dein eigenes Leben führen zu können! Erlaube Dir, Deine volle Kraft zu zeigen!
Und jetzt J. gelingt es, unter Aufbietung aller Kraft, den leicht überlegenen „Vater” über die Grenze zurück zu schieben!

Erleichtert und mit unübersehbarem Stolz blickt er auf seinen Vater und bekommt bewundernde Blicke von seinem „Selbst”. Nachdem er diese „Übung” noch zweimal wiederholt hat, schlägt der Leiter ihm vor, dem Vater sein „Selbst” vorzustellen, z.B. mit folgenden Worten:
„Vater, das ist mein „Selbst”, der Teil von mir , der sich frei und unbeschwert fühlt, auch ohne zu arbeiten! Und ab heute stehe ich dazu! Und ich lasse nicht mehr zu, dass er verletzt wird!”

Und der „Vater” strahlt, voller Stolz auf die Kraft seines „Sohnes”!
Spontan geht er auf seinen „Sohn” zu, beide umarmen sich voller Liebe und Kraft.

Die Kette der Männer
Zum Schluß fordert der Leiter J. auf, sich mit dem Rücken an den „Vater” zu lehnen, dahinter stellt er den „Großvater”, den „Urgroßvater”, den „Ur-Urgroßvater”……….
„Das ist die Kette der Väter, sie reicht zurück bis in die Steinzeit. Männer, die den Vater, die Frau verloren haben, die selber früh gestorben sind, durch Kriege, Hunger, Seuchen. Sie alle aber haben das Leben weiter gegeben …. sonst wärst Du nicht da! Du bist einer von ihnen….und wenn Du an Deinem richtigen Platz stehst, kannst Du ihre Kraft spüren!”

J. lehnt sich an, schließt die Augen, sein Gesicht entspannt sich.
Er steht nicht mehr – in seiner symbiotischen Verschmelzung und doch – alleine, fühlt sich – ganz bei sich selbst und doch – verbunden mit der Kette der Ahnen.

Kommentar
In diesem Beispiel wird deutlich, dass der Klient nicht nur parentisiert, d.h. mit dem früh verstorbenen Großvater identifiziert war, sondern daß er auch mit dem eigenen Vater buchstäblich symbiotisch verschmolzen war. Der Zusammenhang mit seiner Distanz zu seinem „Selbst” wird sehr deutlich. Für die Lösung dieser sehr heftigen – und meist unbewußten – Dynamik ist die Einbeziehung eines Stellvertreters für das Selbst äußerst hilfreich, um nicht zu sagen unentbehrlich.

Fallbeispiel II

„Ich darf nicht erfolgreich sein”
Die Schuld der Überlebenden

Anton, ein ca. 45jähriger sehr tüchtiger und erfolgreicher Zahnarzt, hat seit zehn Jahren immer wieder schwere depressive Krisen, er fühlt sich dann wie gelähmt, hat massive Existenzsängste, hat das tiefe Gefühl, keinen Erfolg haben zu dürfen, scheitern zu müssen. Vor zehn Jahren hatte seine Frau die erste Außenbeziehung.

Der Leiter fragt nach Schuld, in der eigenen Biographie? im System?
Anton berichtet, Verwandte seine Mutter seien als Juden um KZ umgekommen. Das habe er bereits einmal aufgestellt.

Die Aufstellung
Der Leiter läßt ihn je einen Repräsentanten für ein Opfer und einen Täter aufstellen und sich in Beziehung zu den beiden. Anton sucht zwei Frauen aus, stellt den Täter zwei Schritte entfernt neben das Opfer und sich schräg hinter das Opfer.

Der Leiter bittet ihn, noch eine Repräsentanten für sein „Selbst” aufzustellen. Das stellt er in Blickrichtung des Opfers vier Schritte entfernt, das Gesicht abgewandt.

Das Opfer friert und empfindet die Wärme von Anton als angenehm. Die Täterin spürt keine Beziehung. Anton fühlt sich verbunden mit dem Opfer, zu seinem Selbst spürt er keine Verbindung. Dem geht es genauso, es möchte sich aber umdrehen!

Der Leiter stellt zunächst neben das Opfer eine Stellvertreterin für dessen „Selbst”, mit den Worten: „das ist der Teil von Dir, der nicht zerstört werden kann!” Dem Opfer geht es damit besser, es kann einen Schritt von Anton abrücken.

Das „Schicksal”
Dann stellt er in Blickrichtung der Repräsentanten eine Stellvertreterin auf für „das Schicksal”, und bittet Opfer und Täter sowie Anton, sich vor dem Schicksal zu verneigen, mit den Worten: „das Schicksal läßt die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, vor dem Schicksal sind alle gleich. Das Schicksal ist groß, vor ihm sind alle klein!”

Opfer und Täter fühlen sich erleichtert. Anton tut sich schwer, das Schicksal zu achten.
Der Leiter stellt ihn probeweise an den Platz des Schicksals: Anton strahlt, er grollt dem Schicksal, er hätte den Verwandten der Mutter gerne ihr Schicksal erspart, er hätte gerne in ihr Schicksal eingegriffen.
Der Leiter: „Du hast keine Achtung vor dem Schicksal, der Preis für diese Anmaßung ist das Gefühl, scheitern zu müssen!”

Symbiotische, „verschmelzende” Identifikation mit dem Schicksal der Ermordeten, das Bewerten dieses Geschehens wird hier als fehlende Distanz, als fehlende Abgrenzung, als fehlende Achtung verstanden. Der Vollzug des folgenden Achtungsrituals erleichtert die Abgrenzung.

„Achtungsritual”
Und er fordert Anton auf, sich vor dem Schicksal flach auf den Boden zu legen, solange, „bis es gut ist”. Während dessen erklärt er: „Bei den Griechen stand das Schicksal noch über den Göttern. Die Griechen hatten keine so enge Moral wie wir, aber sie hatten großen Respekt vor dem Schicksal. Wenn einer das Schicksal nicht achtete, „von der Hybris geschlagen war”, mieden sie seine Nähe. Sie wußten, er wird scheitern und sie wollten nicht in seinen Untergang hineingezogen werden.! Ihre Tragödien handeln von dieser Wahrheit, sie hatten einen kultischen, einen erzieherischen Sinn: den Menschen diese Wahrheit nahe zu bringen, sie in ihrem Kern zu erreichen und zu berühren!”
„Und es gibt da noch einen Satz: die Wissenden lassen sich von ihrem Schicksal führen ……..die anderen schleift es hinter sich her!”

Symbiotische Verschmelzung mit dem Opfer
Dann läßt er Anton an den Platz des Opfers stellen. Dort fühlt er sich zuhause: er ist mit dem Opfer identifiziert, mit ihm symbiotisch verschmolzen – daher ist er auch getrennt von seinem „Selbst”.
In einem Lösungsritual mit der Trommel versucht er, Anton und das Opfer zu trennen, stellt ihn dem Opfer gegenüber und fordert ihn auf die Sätze nachzusprechen: „du bist du, ich bin ich. Du hast dein Schicksal, ich habe meines, du bist deinen Weg gegangen, ich gehe meinen.”

Anton kann diese Sätze nur mühsam sprechen. Er kann auch sein eigenes Schicksal, welches ihm das „Schicksal” symbolisch in Form einer geschnitzten Holzschachtel anbietet, nicht annehmen.

Der Leiter: Du warst mit dem Opfer symbiotisch verschmolzen, du stecktest im Opfer, das Opfer in dir. Es gab keine Grenze zwischen dir und dem Opfer, dein „Innerer Raum” war „besetzt” von dem Opfer, war gar nicht frei für dein eigenes Selbst. Anstatt mit deinem Selbst identifiziert, verschmolzen zu sein, warst du mit dem Opfer identifiziert.
Um wieder Raum zu haben für dein eigenes Selbst, mußt du auf deine Grenze achten, deine Grenze, deinen inneren Raum schützen, sogar gegenüber dem Opfer.”
Und er fordert Anton auf, in einem Ritual symbolisch das Opfer aus seinem inneren Raum zu drängen.

Anton schüttelt den Kopf: „da käme ich mir vor, wie ein Täter!”

Dies ist das „verinnerlichte Abgrenzungsverbot”, das immer beim Symbiosemuster zu beobachten ist.
Offensichtlich hat Antons Verschmelzung mit dem Opfer zur Folge, dass er sein eigenes aggressives Potential, das in der lebenswichtigen Abgrenzungsbewegung zum Ausdruck kommt, für böse, für schuldhaft hält. Er hat nur die Möglichkeit, es zu unterdrücken oder sich dafür schuldig zu fühlen.

Er identifiziert sein aggressives Potential mit der Mörderenergie und muß es daher bei sich selbst unterdrücken. Die Hypothese taucht auf: Er ist auch mit dem Täter identifiziert! Das muß überprüft werden.

Identifikation mit dem Täter
Der Leiter läßt Anton probeweise an den Platz des Täters stellen, dann heraustreten auf seinen eigenen Platz und zum Täter sagen: „du bist du, ich bin ich, du hast dein Schicksal, ich habe meines!. Symbolisch gibt er dem Täter dessen Schicksal zurück mit den Worten: Das ist dein Schicksal. Ich habe das nicht geachtet, indem ich darüber geurteilt habe, als hätte ich ein Recht dazu. Indem ich dich verurteilt habe, habe ich auch meine eigene Kraft, mein eigenes aggressives Potential als schuldhaft verurteilt!”

Nachdem diese Sätze gewirkt haben, weist der Leiter Anton auf sein Selbst hin, dass er bisher nicht beachten konnte: „Das ist der Teil von dir, der sich auch dann frei und unschuldig fühlt, wenn er kraftvoll und erfolgreich ist, wenn er sich abgrenzt, wenn er sich wehrt!”

Versöhnung mit dem „Selbst”
Schluchzend geht Anton auf sein „Selbst” zu, umarmt es fest, als wolle er es nie mehr loslassen. Dann läßt er sich von ihm seine „Selbst-Energie” zurückhauchen, um sich wieder ganz mit ihr zu verbinden, ganz mit seinem Selbst zu verschmelzen.

Nun kann er auch vom „Schicksal” die Holzdose, die sein eigenes Schicksal symbolisiert, annehmen, kniet vor dem Schicksal, dankt und führt spontan die Hand des Schicksals an seine Stirne, als wolle er dessen Segen erbitten.

Der Leiter fordert Anton auf, dem Opfer sein Selbst und sein eigenes Schicksal zu zeigen. Mit Würde tritt er dem Opfer gegenüber, zeigt ihm mit Freude sein Selbst, „den Teil von mir, der sich auch dann unschuldig und frei fühlt, wenn er kraftvoll und erfolgreich ist!”

Das Opfer lächelt ihm zu, es ist erleichtert.

Jetzt scheint es auch an der Zeit, das Opfer – und den Täter – loszulassen! Alles darf einmal vorbei sein!

„Den Verstorbenen ihren Frieden lassen” als Abgrenzungsritual
„Vielleicht habe ich euch unbewußt durch mein eigenes Leiden festgehalten. Für euch beide ist es schon lange vorbei. Ihr seid jetzt frei, dorthin zu gehen, wo es kein Leid und keine Schuld gibt, nur Licht und Liebe! Wo wir alle herkommen und wohin wir alle einmal zurückkehren!”

Nach diesen Worten kann er sie loslassen und sie können gehen. Zum Abschied bittet er sie noch um ihren Segen und Opfer – und Täter(!) können ihm gemeinsam (!) ihren Segen geben.
Ein sanfter Trommelschlag begleitet die beiden „ins Licht”, Anton wendet sich seinem Leben, seiner Familie zu, verbunden mit seinem „Selbst”.

In der Nachrunde ergänzt die Stellvertreterin des Opfers noch: für sie war es sehr wichtig, dass Anton auch dem Täter die Achtung erwies, sich von ihm distanzierte.

Kommentar
Im zweiten Fall geht es um das, was man oft als „Überlebenschuld” bezeichnet, primär betrifft es die Mutter, deren Angehörige im KZ umkamen, offensichtlich aber auch – über Identifizierung mit der Mutter, bzw. den Opfern – auch den Sohn. Wie häufig bei einer systemischen Traumatisierung liegt offenbar eine Generationen übergreifende Symbiotische Verschmelzung vor, die man als kollektive Symbiose bezeichnen könnte.

Die Arbeit mit einem Stellvertreter für das „Selbst” und zusätzlich für das Schicksal ermöglicht es auf eine elegante Weise, verschiedene Aspekte dieser komplexen Dynamik sichtbar zu machen und diese durch geeignete Strategien zu lösen:

Die identifikatorische Verschmelzung mit dem Opfer,
Damit verbunden so etwas wie ein unbewußtes Verbot,
eine eigene Identität zu haben,
sich abgrenzen zu dürfen,
sein aggressives Potential einzusetzen,
Erfolg haben zu dürfen.

Deutlich wird auch, wie mit der Identifikation mit den Opfern eine Distanzlosigkeit, ein fehlender Respekt vor dem Schicksal der Opfer, ja vor dem Schicksal überhaupt verbunden ist. Und wie die moralische Abwertung der Täter verbunden ist mit einer Abwertung – auch der eigenen – aggressiven Energie. Das verstärkt noch das unbewußte Abgrenzungsverbot.

Scheitern als Versuch der Selbstheilung?
Im zweiten Beispiel könnte man das Scheitern als den Versuch einer Selbstheilung verstehen. Der Klient, der sich über das Schicksal stellen zu dürfen glaubt, bringt sich selbst zu Fall, bis er vor dem Schicksal auf dem Boden liegt. Das bietet ihm die Chance, die Überlegenheit des Schicksals anzuerkennen und seine Größenfantasien zu heilen.
Er könnte sich aber auch in seiner schlechten Meinung vom Schicksal bestätigt fühlen und dadurch den Teufelskreis beschleunigen.

Systemische Therapie als Unterstützung der individuellen und systemischen Selbstregulation
Der Leiter, der einen derartig betroffenen Klienten auffordert, sich vor dem Schicksal auf den Boden zu legen, greift sozusagen diese Bewegung der Selbstheilung auf. Wenn der Klient diese Bewegung vollziehen kann, erspart er sich vielleicht das Scheitern in der Realität?!

Auch der Versuch, den Klienten wieder seinem getrennten Selbst an zu nähern, kann unter dem Gesichtpunkt Wiederherstellung der Selbstregulation verstanden werden.

Fallbeispiel III: Das verlorene Kind

Anliegen
B, eine 25-jährige Frau mit großen. traurigen Augen kommt, weil sie den Tod ihres ersten Kindes, das kurz nach einer schweren Geburt starb, noch nicht verarbeitet hat.
Im weiteren Gespräch ergibt sich, daß auch ihre Mutter das erste Kind verloren hat, einen Jungen. Sie habe immer eine große Sehnsucht zu diesem älteren Bruder verspürt. Mit der Mutter fühle sie sich sehr verbunden.

Hier taucht, wie nicht selten, das Symbiosemuster gleich mehrfach auf:
Identifizierung (symbiotische Verschmelzung) mit der Mutter ( soweit, dass sich deren Schicksal, das erste Kind zu verlieren, wiederholt),
Identifizierung mit dem älteren Bruder,
Verschmelzung, (nicht gelungener Abschied) mit dem verlorenen ersten Kind.
Der Leiter schlägt ihr vor, mit der Klärung der Beziehung zum verlorenen eigenen Kind zu beginnen.

Aufstellung
In einem Aufstellungsseminar stellt sie ihr verstorbenes Kind auf, sich dicht daneben und eine Stellvertreterin für ihr Selbst” neben sich.
Ihr kommen sofort die Tränen vor Trauer, Ihr „Kind” fühlt sich unwohl, es ist ihm zu eng, ihr „Selbst” hält es auch nicht aus, geht spontan fünf Meter zurück.

Der Leiter vermutet, daß „ein Teil von ihr” mit dem Kind gestorben ist, und sie bestätigt: ich habe mit dem Kind einen Teil von mir selbst begraben. Ich hätte mir vor der Geburt gewünscht, daß lieber mein Kind überlebt und ich sterbe!”

Der Leiter: „Es scheint, daß du immer noch mit deinem Kind verschmolzen bist, daß du dein Kind mit deinem Selbst verwechselst, daß du dich lieber von deinem Selbst trennst, als von deinem Kind?”
Sie wird nachdenklich.
Der Leiter stellt neben das Kind dessen „Selbst”, daraufhin geht es dem Kind bereits deutlich besser.Symbiotische Verschmelzung und ihre Lösung
Dann schlägt er B. vor, die Verschmelzung mit dem Kind durch ein Trommelritual zu lösen. Sie nickt. Eine Helferin bindet Mutter und „Kind” mit einem Schal zusammen, der Leiter geht mit der Rahmentrommel um sie herum, trennt die beiden, legt den Schal als symbolische Grenze zwischen die beiden, und schlägt ihr die Sätze vor: „du bist du, ich bin ich, du hast dein Schicksal, ich habe meines, du bist deinen Weg gegangen, ich gehe meinen!”
Da ihr das offenbar schwer fällt – so als sei ihr das nicht erlaubt – läßt der Leiter sie die Sätze wiederholen und erklärt:
Wenn du dich nicht von deinem Kind abgrenzt, seid ihr beide gebunden, dein Kind ist belastet durch deine Trauer, kann seinen Frieden nicht finden, „kann nicht sterben” und du kannst dich dem Leben nicht zuwenden, „kannst nicht leben”.
Ausserdem trennt dich das von deinem Selbst. Dein „Innerer Raum ist noch besetzt von deinem Kind, dein Selbst hat da keine Chance, mit dir verbunden zu sein. Anstatt mit deinem Selbst identifiziert zu sein, bist du offensichtlich mit deinem Kind identifiziert, ein schreckliches Mißverständnis.
Nun kann sie diese Sätze noch einmal wiederholen.
Dem „Kind” geht es daraufhin besser, auch ihr Selbst kann etwas näher kommen. Sie spürt jetzt großen Schmerz.
Der Leiter: das ist der Abschiedsschmerz. Du hast das bisher nicht spüren können, weil du die Illusion aufrecht erhalten hast, noch mit deinem Kind verbunden zu sein. Aber um den Preis, von deinem Selbst getrennt zu sein.
Dieser Schmerz ist heilsam.

Die Rückgaberituale
Um die Abgrenzung zu vollenden, schlägt der Leiter ihr zwei Rückgaberituale vor. Zunächst gibt sie dem Kind einen schweren Stein zurück mit den Worten: das ist dein Schicksal, ich hätte es lieber an deiner Stelle getragen, aber ich sehe jetzt, dass es zu dir gehört!”
Auch dieser Satz fällt ihr sehr schwer, sie muß ihn ein zweites Mal wiederholen..
In einem zweiten Ritual läßt sie sich vom „Kind” die „Selbst-Anteile” symbolisch zurück hauchen, die sie noch bei ihm zurückgelassen hat.
Dem „Kind” – und ihrem „Selbst” – geht es nach diesen Abgrenzungsritualen deutlich besser, das macht es ihr leichter, diese Schritte innerlich nachzuvollziehen.

Mit dem Selbst wieder in Verbindung treten
Der Leiter fragt sie, ob sie mit ihrem Selbst wieder in Verbindung treten, wolle, „mit dem Teil von Dir, sehr sich unbeschwert, frei, lebensfroh fühlt?”
Sie nickt unter Tränen.
Kennst Du diesen Teil von dir?
Sie nickt wieder, verschämt, so als dürfe das gar nicht sein.
„Dann spüre diesen Teil!”
Zögernd geht sie auf ihr „Selbst” zu, das sie erleichtert anstrahlt und sie in die Arme nimmt. Nach einer langen Umarmung fragt der Leiter: willst du deinem Kind dein Selbst zeigen?
Sie zögert zuerst, dann nickt sie, und stellt, wieder unter Tränen, ihrem Kind ihr Selbst vor, „der Teil von mir, der unbeschwert und lebendig ist!”
Das „Kind” freut sich und nimmt sein eigenes Selbst bei der Hand.

Den inneren Raum schützen
Der Leiter erklärt ihr: du kannst nur dann mit deinem Selbst, mit deiner Lebendigkeit verbunden bleiben, wenn du deinen inneren Raum schützt. Offenbar gab es zwischen dir und deinem Kind keine Grenze. Du mußt diese Grenze beachten und schützen, sogar gegenüber deinem eigenen Kind!”

Ungläubig schaut sie zum Leiter, zu ihrem Kind, zu ihrem Selbst, so als wäre ihr das verboten. Da alle dem zustimmen, nickt sie. Das „Kind” „testet” ihre Bereitschaft, die Grenze zu schützen – und kann sie mühelos aus ihrem inneren Raum hinausschieben!
Sich dein Selbst bentfalten kann, dazu hast du dein Leben! Nicht
Der Leiter: „Das hier ist kein Spiel, hier geht es um Leben oder Tod! Erlaube dir, deine ganze Kraft zu zeigen, es ist eine gute Kraft! Es ist dein Recht, ja deine Pflicht, deinen inneren Raum zu schützen, damit sich dein Selbst entfalten kann!”

Und beim nächsten mal gelingt es ihr, ihre Grenze zu schützen, das Kind über die Grenze zurückzuschieben.
Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, zum ersten Mal strahlen ihre Augen, sie lächelt! Ihre Haltung verändert sich, sie richtet sich auf!

Der magische Moment der Energieumkehr
Ihr aggressives Potential konnte sich nicht auf kostruktive Art in der Abgrenzung, im Schutz des Inneren Raumes entladen, da dieser „Kanal” infolge der symbiotischen Verschmelzung, infolge eines verinnerlichten “Abgrenzungsverbotes” blockiert war. So richtete sich das gestaute aggressive Potential nach innen, in Form von Schuldgefühlen, Depressionen oder Krankheit. – Der andere Ausweg, unkontrolliert nach außen zu explodieren, war bei B. ebenfalls blockiert.
Durch die Auflösung des verinnerlichten Abgrenzungsverbotes wird der „eigentliche Kanal” wieder frei, das Potential kann sich in der Abgrenzung entladen. Man kann das unmittelbar an der Veränderung von Gesichtsausdruck und Haltung sehen!

Vorbereitung des Abschieds
Nach diesem Ritual geht es auch dem Kind besser, es fühlt sich jetzt frei, dahin zu gehen, wo es seinen Frieden finden kann.

Der Leiter zu B.: Es scheint, dass du dein Kind unbewußt durch deine Trauer und deine Schuldgefühle festgehalten hast, so daß es seinen Frieden noch nicht finden konnte.
Glaubst du, dass du es jetzt loslassen kannst?

Wieder kommen die Tränen, der Schmerz des Abschieds.
Der Leiter:„das ist ganz in Ordnung, das ist jetzt der Abschiedsschmerz, der ist heilsam, weil er dir ermöglicht, wieder zu dir selbst zu kommen!”

Noch etwas ungläubig schaut sie zum Leiter, zum Kind, zu ihrem Selbst.
Da alle ihr zustimmend zunicken, ist sie bereit.

Der Abschied
Der Leiter schlägt ihr zum Kind folgende Sätze vor:
„Du bist schon gestorben. Vielleicht habe ich dich, ohne es zu wollen, durch Trauer und Schuldgefühle festgehalten. Aber für dich ist es schon vorbei. Ich laß dich jetzt los, du bist frei, dorthin zu gehen, wo es keinen Schmerz und keine Trauer gibt, nur Liebe und Licht – und Tanz! Dorthin, wo wir alle herkommen und wohin wir alle einmal zurückkehren!”

Unter Tränen spricht sie diese Sätze zu ihrem Kind – und kann es jetzt loslassen.
Nach einer letzten innigen Umarmung kann das Kind, begleitet von sanften Schlägen der Trommel, dahin gehen, wo es seinen Frieden findet.

Kommentar
In diesem Fallbeispiel wird der Zusammenhang zwischen Symbiose und Trennung vom Selbst, aber auch die sich dadurch ergebenden Lösungsmöglichkeiten besonders deutlich.

Abgrenzungsverbot
Eindrucksvoll ist das Phänomen des unbewußten Abgrenzungsverbotes, welches geradezu als Kernstück eines unbewußten symbiotischen Glaubenssatzes begriffen werden kann, zusammen mit der Aggressionshemmung, und dem Verbot, ein eigenes selbstbestimmtes Leben zu führen. In vielen Familien, die ein kollektives Symbiosemuster („kollektive Symbiose”) entwickelt haben, werden Autonomietendenzen eines Familienmitgliedes als bedrohlich angesehen und als aggressiv, egoistisch, selbstbezogen oder gar als verrückt diffamiert. Hier gilt „Selbstlosigkeit” als Tugend!

Den Verstorbenen ihren Frieden lassen
Für den Vollzug des Abschieds zeigt sich eine archaische Vorstellung als sehr hilfreich, die sich schon in dem Märchen „Das Totenhemdchen” der Gebrüder Grimm als heilsam erweist. Die Vorstellung, dass Geburt und Tod, die unser Leben begrenzen, unsere Alltagswelt trennen von einer anderen, nichtalltäglichen Welt und dass der Tod der Übergang in diese andere Welt ist, in der es für „die Seele” einen guten Platz gibt, wo Schmerz und Trauer vorbei sind.

Die moderne Vorstellung, dass mit dem Tod alles aus sei, dass der Verstorbene verschwinde, als hätte es ihn nie gegeben, ist nur angeblich „wissenschaftlich”, sie läßt sich streng genommen genauso wenig beweisen wie das Gegenteil. Aber mir scheint, dass diese „moderne” Todesvorstellung seit Generationen das Abschiednehmen erschwert hat. Dass sie mit dazu beigetragen hat, dass Lebende sich von Verstorbenen nicht verabschieden konnten, nicht „bei sich selbst” sein konnten, sich dem Leben, ihren Kindern nicht zuwenden konnten, so dass diese kompensatorisch dazu verleitet wurden, für die Eltern Verstorbene zu ersetzen – sich mit ihnen zu identifizieren – so dass auch die Kinder nicht „bei sich selbst” sein konnten und so fort von Generation zu Generation.
Salopp gesprochen, scheint die moderne Vorstellung vom Tod für die Seele – die sich seit der Steinzeit nicht wesentlich verändert hat – nicht „die richtige software” darzustellen, welche das Abschiednehmen ermöglicht.

Nach meinem Eindruck haben wir – deshalb? – seit mehreren Generationen verlernt, uns zu verabschieden.


„Selbst-Entfremdung” und Verlust der Selbstregulation

Trennung vom Selbst heißt fehlender Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Ohne diesen Zugang aber kann ich mich nicht „selbst”-bestimmt organisieren und orientieren, bin gezwungen, mich nach fremden Impulsen zu organisieren und orientieren. Meine Selbstregulation ist blockiert, ich bin fremdbestimmt. Die notwendigerweise damit verbundene Wut wendet sich unkontrolliert nach außen oder gegen mich selbst, wirkt sich destruktiv, zerstörerisch aus, in Form von Depression, Krankheit.
Die Verbindung mit dem Selbst ermöglicht wieder eine Selbst-Regulation, kanalisiert das aggressive Potential in die Abgrenzung, dahin, wo es konstruktiv wirken kann.

Aspekte des Selbst
Bisweilen fühlt sich der Stellvertreter des „Selbst” hilflos, bedürftig, wie das „innere Kind”, das vom Klienten – dem „Erwachsenen-Ich” – angenommen und geschützt werden möchte.
Bisweilen aber auch fühlt es sich stark, unverletzbar. Es ist dem Klienten liebevoll zugewandt, nimmt ihn bedingungslos an, so wie er ist, in all seiner Verwirrung, Zerrissenheit und Schuld. Diesen Aspekt hat auch C.G. Jung gesehen und als “göttlichen Funken” bezeichnet. Er bringt – unbeabsichtigt – eine spirituelle Qualität in die Aufstellung, was auch in den Rückmeldungen der Teilnehmer zum Ausdruck kommt.
In jedem Fall verhilft die Begegnung, die Versöhnung mit dem „Selbst” dem Klienten zu mehr Kraft und Klarheit. Das „Selbst” erweist sich damit als eine entscheidende Ressource, die zudem nicht weit hergeholt werden muß, sondern buchstäblich so nahe liegt – und immer vorhanden ist!!

Zusammenfassung
Als Schlüssel für die Lösung des hartnäckigen Symbiosethemas erweist sich in allen drei Fällen die Einbeziehung des „Selbst” in Gestalt eines Repräsentanten, und das Bild des „Inneren Raumes”, den es von „Besetzungen” zu befreien gilt, um Platz zu machen für das eigene „Selbst”. Diese Bilder sind einleuchtend, werden vom Klienten leicht aufgenommen. Sie helfen ihm, sich im Labyrinth seiner Symbiose zurechtzufinden und geben ihm eine Ahnung von einer möglichen Lösung. Die Abgrenzungsübung, das “Hinausschieben” des Fremde aus dem eigenen Inneren Raum, ermöglicht die Wahrnehmung und Lösung des unbewußten “Abgrenzungsverbotes” und der Aggressionshemmung. Der Klient wird aus der lähmenden Trance seiner Symbiose erlöst, wird wieder handlungsfähig, „Kapitän auf seinem eigenen Boot”.

Erst das setting des Familienstellens macht es möglich, die komplexen Dynamiken des Symbiosemusters auf eine neue Art sichtbar und bewußt zu machen und neue, effektive Lösungsstrategien zu entwickeln.

München 01.02.2008 (Erstfassung)