Philippe Ariés beschreibt als Historiker wie sich unser Verhältnis zum Tod – und damit auch zu den Toten – verändert hat.
Fast drei Jahrtausende lang – von Homer bis Tolstoi – ist im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert geblieben. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, und Bestandteil des Lebens, er wurde akzeptiert und häufig als eine letzte Lebensphase der Erfüllung empfunden.
Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Der Tod ist für den heutigen Menschen Angst einflößend und unfassbar, und er ist außerdem in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den “eigenen Tod” betrogen. (Klappentext)
Mit der Ausgrenzung des Todes und der Toten ist eine Mauer zwischen Lebenden und Toten entstanden.
Die Seele, die in Verbindung und Austausch mit den Verstorbenen steht, fühlt sich verletzt, beengt. Das Haus, das der Verstand ihr bietet, ist ihr zu klein, sie leidet oder sie bricht aus.
Beim Familienstellen erleben wir, dass es eine Suchbewegung der Seele zu einem fehlenden oder früh gestorbenen Familienmitglied, einem Geschwister oder einem Elternteil oder einem Kind gibt. Wenn es der Seele nicht gestattet ist, den Fehlenden zu berühren, Liebe und Schmerz in dieser Berührung zu erleben, dann erstarrt sie in einer Sehnsuchtshaltung. Diese Sehnsucht kann niemand stillen, sie bewirkt eine Abwendung vom Leben, von den Lebenden, manchmal wird es eine Todessehnsucht.
Ist es ein Zufall, dass Eichendorff, der genau in der ersten Hälfte dieses 19. Jahrhunderts lebte, wie viele andere “Romantiker” diese Suchbewegung der Seele beschreibt:
es war als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
daß sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müßt.
Der Wind ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht.
Es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht
und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
zog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
Der Begriff Seele wird, im Zuge von Aufklärung und Wissenschaft immer mehr seiner Bedeutung entleert, in Frage gestellt, obsolet. Heute wird er nur noch in seiner griechischen Übersetzung Psyche verwendet: Psychologie, Psychiatrie, Psychopathologie und Psychotherapie. Diese, mit der Aura der Wissenschaftlichkeit verbundenen Begriffe lassen jedoch die Seele völlig aus dem Blick verlieren.
Der Ausgrenzung des Todes folgt offenbar die Ausgrenzung der Seele.
Der Gegenstand der Psychowissenschaften ist reduziert auf Emotion, Wahrnehmung, Verhalten, Ichfunktionen, bewusst/unbewusst, Übertragung/Gegenübertragung.
Die Psychopathologie beschreibt krankhafte Störungen. Damit bewertet sie und verstärkt die ohnehin bereits vorhandene Selbstwertproblematik des Klienten. Und die Psychotherapie entwickelt Strategien – von Verhaltenstherapie bis Psychoanalyse – um diese Störungen zu beheben, sie nährt die Illusion der Machbarkeit. Der Patient, abgewertet durch psychopathologisch definierte Diagnosen fühlt sich zusätzlich als Versager, wenn die therapeutische Strategie nichts bewegt.
Beim Familienstellen wird – im Unterschied zur traditionellen Psychotherapie – der Klient nicht als Einzelner, als Individuum gesehen, sondern als Teil seiner Familiensystems, und dazu gehören drei bis vier Generationen! Und auch die Ausgestoßenen, Verachteten und die Vergessenen werden wieder mit einbezogen, insbesondere die Verstorbenen, besonders früh verstorbene Geschwister – auch Totgeburten, Fehlgeburten, abgetriebene Kinder – aber auch früh gestorbene Eltern. Und sein “Problem” wird nicht abgewertet, im Gegenteil, es wird als Ausdruck seiner unbewussten Loyalität zu einem meist vergessenen verstorbenen oder abgewerteten Familienmitglied verstanden.
“Wenn wir sehen, wo in einem Problem die Liebe steckt, finden wir die Lösung” (Hellinger). Erst diese neue Sichtweise lässt bisher unbekannte Phänomene in den Blick kommen: die blockierte Suchbewegung der Seele zu einem geliebten Verstorbenen führt zur Sehnsuchtshaltung. Diese Sehnsucht kann keiner stillen, der Betreffende wendet sich vom Leben, von den Lebenden ab, lindert seinen Schmerz durch Alkohol oder betäubt sich mit Arbeit. Die Kinder spüren seinen Schmerz, leiden unter seiner Abwendung. Um ihm nahe zu sein, schlüpfen sie in die Rolle des vermissten Familienmitglieds (Identifizierung). Vermittelt durch eine fremde Identität haben sie so die Illusion von Nähe und Wärme, aber um einen hohen Preis, sie verlieren ihre Identität, ihren richtigen Platz als Kind zu den Eltern und damit auch die Möglichkeit, von den Eltern zu nehmen und sich damit von ihnen abzulösen.
Die symbiotische Verstrickung mit den Eltern belastet die eigene Partnerschaft, die eigene Beziehung zu den Kindern mit symbiotischen Mustern. Die Freude an Bindung und die Fähigkeit zur Bindung gehen verloren. Kinder werden überfordert und geben die Verwirrung an die eigenen Kinder weiter.
Beim Familienstellen wird deutlich und für jeden spürbar, wie sehr die Seele durch diese Verwerfungen und Verstrickungen leidet, bis zum Zerreißen, bis zum Wahnsinn oder Selbstmord. Und wie die Lösung, wenn sie gelingt, die Seele entlastet, sie wieder heilen lässt, manchmal auch die Seelen der anderen Familienmitglieder.
Durch das Familienstellen bekommt die Bezeichnung Seele wieder einen tiefen Sinn und Seelenheilkunde wird zu einer beglückenden und bereichernden Tätigkeit.