Der SCL 90 R nach Derogatis1
ist ein Selbstbeurteilungsfragebogen welcher in der Psychotherapie-forschung zur Überprüfung der Wirksamkeit verwendet wird. Mit 90 Fragen mißt er die Befindlichkeit eines Klienten in 9 Skalen: Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Unsicherheit im Sozialkontakt, Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivität, phobische Angst, paranoides Denken, Psychotizismus. Drei weitere Skalen kommen dazu: GSI = psychische Gesamtbelastung, PSI = Intensität der Antworten und PST = Anzahl der Symptome. Unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Ausbildung werden die T- Werte aus den gemessenen Rohwerte anhand einer Tabelle berechnet und als Grundlage für Verlaufskontrollen verwendet.
Stichprobe
Zwischen 2004 und 2005 haben 147 Teilnehmer aus zehn meiner Aufstellungsseminare diesen Fragebogen ausgefüllt. Um zu überprüfen, ob es auch bei Teilnehmer mit überdurchschnittlichen Werten zu einer signifikanten und nachhaltigen Veränderung nach einer Familien-Aufstellung kommt, wurden 42 Klienten ausgewählt, die vor dem Seminar zumindest in zwei Skalen einen T-Wert über dem Durchschnittsbereich (40-60) zeigten. Diese Klienten bat ich, unmittelbar nach dem Seminar und nach ca. 6 und 12 Monaten den Fragebogen erneut auszufüllen. Es blieben 21Teilnehmer, von denen wir Fragebögen zu den genannten Terminen erhielten. Deren Werte wurden statistisch gemittelt.
Geschlecht: 14 Frauen, 7 Männer
Alter: 20-86 (!)
Einzelverläufe:
Von 21 Klienten zeigten
- 16 (76,2%) eine Besserung,
- 4 (19%) eine Stagnation und
- 1 (4,8%) eine Verschlechterung.
Alle Werte wurden in die Berechnung des statistischen Mittelwertes mit einbezogen.
Begleitende Therapien: die meisten nahmen nur an einem Seminar teil. Einige Klienten hatten Beratungsgespräche bei mir oder einem anderen Therapeuten, einzelne nahmen auch an einem weiteren Aufstellungs-seminar teil.
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Herr Dr. Peter Hedderich wertete die Fragebögen aus und erstellte die Grafik.
Ergebnisse 2
Die Ergebnisse werden in der Grafik wiedergegeben. Der Durchschnitts-Wert aller Teilnehmer zeigte vor der Teilnahme am Seminar in allen Skalen einen Wert deutlich über 60, z.T. über 65 oder 70. Bereits am letzten Tag des Seminars lag der Wert in allen Skalen um 60. Und das obwohl je 2 Teilnehmer im Gesamtverlauf eine Verschlechterung beziehungsweise Stagnation aufwiesen.
Die Werte nach ca. 6 bzw. 12 Monaten liegen um 60 mit geringen Schwankungen nach oben oder unten. Nur die Werte für Zwanghaftigkeit und Depression, die vor dem Seminar am höchsten, bei 71 lagen, liegen nun bei ca. 63.
Eine klinisch relevante Besserung liegt vor, wenn der T-Wert einer Skala sich um 4-5 Punkte verbessert hat. In der vorliegenden Stichprobe hat sich der durchschnittliche T-Wert in den meisten Skalen um 5-8 Punkte vermindert! Und das, obwohl auch die Teilnehmer in die Berechnung mit eingingen, die keine Besserung (4) oder sogar eine Verschlechterung (1) zeigten!
Diskussion
Die Messung der Effizienz therapeutischer Maßnahmen ist sehr aufwendig und grundsätzlich problematisch.
Der Aufwand beim SCL 90 R ist relativ gering: ca. 15 Minuten für das Ausfüllen und ca. 5 Minuten für die computergestützte Auswertung.
Problematisch ist die Bewertung, da
- bereits die Wertung gesund/krank konzeptgebunden ist,
- Selbstbeurteilungsfragebögen nicht so zuverlässig sind wie ein – allerdings wesentlich aufwendigeres – Rating bzw. halbstandardisierte Interviews durch einen oder mehrere Beobachter,
- das Erleben des Aufstellungsseminars nur eines von möglicherweise mehreren Ereignissen ist, welche sich auf die Befindlichkeit des Klienten positiv oder negativ auswirken können.
Für einen systemischen Therapeuten stellen sich darüber hinaus weitere Fragen:
Der Fragebogen mißt und wertet Symptome, die systemische Therapie aber ist lösungsorientiert, nicht symptomorientiert. Und sie wertet nicht, da Symptome auch Ausdruck eines Selbstheilungsprozesses sein können.
Für jeden Therapeuten – und besonders für den systemisch denkenden! – ist die Frage entscheidend: hat der Klient durch seine Interventionen mehr Autonomie, d.h. Fähigkeit zur Selbstregulation gewonnen, hat sich seine Wahrnehmung, sein Selbstbild positiv verändert?
Mit dieser prinzipiellen Einschränkung sind die Ergebnisse
sehr bemerkenswert.
Für mich selbst sehr überraschend ist, daß die entscheidende Besserung bereits am Ende des Seminars auftritt und daß sie im Wesentlichen anhält. Der enge zeitliche Zusammenhang der Veränderung mit dem Seminar ist für mich ein Indiz dafür, daß hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht und nicht andere Faktoren eine entscheidende Rolle spielen.
Die anhaltende Verbesserung – in vielen Einzelverläufen auch eine fortschreitende Verbesserung ohne begleitende Therapie! – spricht dafür, daß das Seminar nicht nur eine unterstützende, vorübergehende Wirkung hat, sondern eine anhaltende, das heißt strukturelle Veränderung, eine Verbesserung der Selbstregulation des Klienten bewirken kann.
Bemerkenswert auch, daß die Veränderung nicht nur eine oder einige Skalen sondern alle erfaßt!
Das Aufstellen – zumindest in der von mir verwendeten „prozess-orienten“ Form – scheint auf eine zentrale, gemeinsame Ursache aller psychischen Befindlichkeits-Störungen zu wirken. Die Annahme liegt nahe, das tatsächlich das Entdecken und Lösen symbiotischer Muster und damit eine Besserung von Orientierung und Autonomie der entscheidende Faktor einer effizienten Therapie ist!
Diese Hypothese sollte diskutiert und durch weitere Effizienz-Untersuchungen überprüft werden.
Dr. Ernst R. Langlotz, Oktober 2006
1 SCL-90-R Symptom-Checkliste von L. R. Derogatis – deutsche Version – 2. Auflage 2002, Beltz Göttingen
2 Herrn Dr. Peter Hedderich danke ich sehr für die Auswertung der Fragebögen und die Erstellung der Grafik!