Brief an Dagmar Ingwersen

Deine Präsentation der energetischen Therapie nach Gallo hat mich sehr angeregt. Ich finde da ähnliche Elemente wieder, denen ich begegne, wenn ich auf Symbiosemuster achte.In letzter Zeit lasse ich die Klienten ihr „Selbst” aufstellen. Meist stellen sie es weit entfernt von ihrem Stellvertreter auf, und zwar desto weiter, je mehr sie zu symbiotischer Verschmelzung tendieren!
Die energetische Umkehr entspricht vielleicht dem, was man als „verinnerlichtes Autonomieverbot” bezeichnen könnte. Das möchte ich erläutern.
Menschen mit ausgeprägtem Symbiosemuster (= Abgrenzungsschwäche – was wir Systemaufsteller als „Loyalität” sehr euphemistisch beschreiben und vielleicht dadurch unserer Wahrnehmung entziehen??!!) neigen dazu, sich an andere anzupassen, auf andere einzustellen und haben deshalb einen erschwerten Zugang zu ihrem Selbst (der eigenen Wahrnehmung, eigenen Gefühlen und Bedürfnissen). Diese Distanz zu ihrem Selbst,- ihre „Selbstlosigkeit”, die mancherorts als Tugend gilt! – erschwert es ihnen, ihr Leben „Selbst”-bestimmt zu leben – verstärkt ihre Tendenz, sich nach außen, nach anderen zu orientieren, an sie anzupassen, fremdbestimmt zu leben. Diese beiden Dynamiken sind miteinander verschränkt, bedingen und verstärken sich gegenseitig im Sinne eines Teufelskreises!

Man kann dies Phänomen als Überlebensstrategie verstehen, anscheinend haben die Betroffenen erlebt, dass sie „selbst”, d.h. zentrale Aspekte ihrer Person wie Neugier, Aggression, Lebendigkeit, Eigenständigkeit von den Eltern nicht angenommen, sondern im Gegenteil abgelehnt wurden, weil diese sich dadurch bedroht fühlten.
Weil die Eltern selbst traumatisiert, angepaßt, ihrem eigenen Selbst entfremdet waren?
Um dennoch zumindest die Illusion von Nähe zu erleben, blieb ihnen nur die symbiotische Verschmelzung übrig, mußten sie ihr „Selbst” unterdrücken, es „in den Untergrund verbannen”.

Meist finde ich Familien mit kollektiver Symbiose: alle Familienmitglieder sind miteinander symbiotisch verschmolzen. Es scheint einen gemeinsamen Glaubenssatz zu geben: „deine vornehmste Aufgabe ist es, dich, dein Selbst für die anderen aufzuopfern. Angesichts der traumatischen „Amputationswunden” deiner Vorfahren ist es deine Aufgabe, für sie „Prothese” zu sein.
Und jeder Betroffene, der nicht Kind sein konnte, seine Eltern nicht als Eltern erleben konnte, erwartet das wiederum von seinen Kindern – sofern er überhaupt Beziehung leben kann, einem Kind das Leben geben kann.
Das gilt als wahre Liebe.
„Dein Selbst zu leben ist Verrat, es ist unmöglich, es ist amoralisch, es ist verrückt. Du wirst dafür aus der Gemeinschaft ausgestoßen.”

So wird das Muster weitergegeben.

Um dem zu entgehen, verraten viele lieber ihr „Selbst”.
Ist das nicht dasselbe wie „Energieumkehr” bei Gallo?

Der Stellvertreter des „Selbst” spürt genau, ob er bei dem Klienten „eine Chance hat”, ob dessen „innerer Raum” frei für das Selbst ist.
Zur Symbiotischen Verschmelzung gehört, dass ich nicht lernen konnte, mich als getrennt von Mutter/Vater erleben kann, so als steckte ich in ihnen bzw. sie in mir, als sei ich mit ihnen verschmolzen. Mein innerer Raum ist buchstäblich „besetzt”.
Nach meiner Erfahrung ermöglicht es die Systemaufstellung, diesen Befund, aber auch die Lösung, den Abgrenzungs- und Befreiungsprozeß szenisch sichtbar und erfahrbar zu machen. Das bedeutet z.B. die Mutter, den Vater mit voller Kraft und Entschiedenheit aus dem inneren Raum hinauszuschieben!
Dabei wird deutlich, wie schwer das den Klienten fällt, als sei das Verrat, als sei das aggressiv und daher verboten.
Das könnte man das verinnerlichte Abgrenzungsverbot nennen.
Hilfreich ist hier oft die Geschichte aus dem Neuen Testament, in der Jesus in heiligem Zorn die Händler aus dem Raum des Tempels vertrieb!

Wenn dieser Abgrenzungsprozess jedoch gelingt, wenn der Klient sich dann – und erst dann! – seinem Selbst annähern kann, es den Eltern vorstellt : „das ist mein Selbst, der Teil von mir, der nicht nur brav und angepaßt ist, der auch wild, neugierig, lebendig ist! Und ab heute stehe ich zu ihm!” – dann macht der Klient die unglaubliche Erfahrung, dass „Mutter” und „Vater” (die Stellvertreter!) von seiner Lebendigkeit begeistert sind, so als hätten sie sich immer nur das gewünscht!

Das „Selbst” hat die unglaubliche Qualität, den Klienten so anzunehmen und zu lieben, wie er ist. (Gallo: „ich nehme mich liebevoll an”) Das erinnert an C.G.Jung, der dem Selbst eine göttliche, eine spirituelle Qualität zusprach.
Wahrscheinlich meint „Sünde” (Abgesondert sein) den Verlust, die Trennung vom Selbst!?
Das Selbst erweist sich somit als unsere stärkste Ressource. Jeder hat sein eigenes Selbst und es ist näher, als du glaubst!
Bisweilen habe ich den Eindruck, dass die Klienten – so fern sie auch ihr Selbst stellen – heimlich und den Verboten zum Trotz Verbindung zu ihrem Selbst haben! So als würden sie sich mit ihm an entlegenen Orten /im Untergrund!) treffen, auch wenn sie sich offiziell von ihm distanzieren!
Vielleicht hätten sie sonst gar nicht überlebt!?.

Das Selbst kann in Aufstellungen die Abgrenzungsprozesse wie ein Katalysator unterstützen und erleichtern. Und es spiegelt durch seine Gefühle zum Klienten wieder, wie weit dessen Abgrenzungsprozeß bereits fortgeschritten ist. Bisweilen – wenn der Klient sich nicht traut, einen Elternteil aus seinem inneren Raum hinauszuschieben, kann das Selbst ihm zeigen, „wie es geht!”

In der Abgrenzung, im Schützen des inneren Raumes kann sich das aggressive Potential sinnvoll entfalten. Wenn ihm, wie beim Symbiosekomplex die Regel – dieser „Kanal” verwehrt ist, staut sich die Aggression an. Entweder explodiert sie unkontrolliert nach außen oder sie richtet sich nach innen: Selbstzerstörung, Depression, Krankheit.
Auch das ein Aspekt von „Energieumkehr”!?
Durch die Einbeziehung des Selbst und durch die „Rehabilitierung” von Aggression, von Abgrenzung, von Lebendigkeit wird die Aufstellungsarbeit leichter, eleganter, verliert an Schwere.

Dabei scheint alles nur ein Mißverständnis: anstatt sich mit dem Selbst zu identifizieren ( mit ihm zu „verschmelzen”) identifizieren (verschmelzen) die Betroffenen sich mit anderen: mit Mutter, Vater, der Arbeit, dem Partner, den Kindern. So als „verwechselten” sie den anderen mit ihrem „Selbst”!
Anstelle des „Kontaktmodus” von Beziehung zwischen zwei selbstbestimmten Personen erlernen sie den „Symbiosemodus” von Beziehung, der sie ihrem Selbst entfremdet.
Und nach diesem Modell gestalten sie alle späteren Beziehungen.

Kollektive Symbiose, kollektive Selbstentfremdung hat auch einen gesellschaftlichen Aspekt.
Wir Deutschen scheinen hier – durch kollektive Traumen der letzten Jahrhunderte ?- besonders betroffen zu sein.
Deutlich wird das in einer Anekdote: Lenin wollte seine Weltrevolution ursprünglich mit den Deutschen machen. Aber er nahm bald davon Abstand. „Wenn sie einen Bahnhof besetzen wollen, kaufen sie zuerst eine Bahnsteigkarte!”

Und die unfaßlichen Greuel der Nazizeit: können sie – wenn überhaupt – nicht nur als Ausdruck einer kollektiven Selbstentfremdung verstanden werden?
Als Aufforderung, dies Phänomen einer kollektiven Verwirrung, das inzwischen globale Ausmaße annimmt, unbefangen, d.h. distanziert und abgegrenzt zu studieren, um vielleicht noch rechtzeitig daraus zu lernen?

 

Robert Langlotz