Richard, ein 55-jähriger, grosser, kräftiger Geschäftsmann, hat mit seinen beiden älteren Brüdern zusammen ein Unternehmen. Obwohl der Jüngste, hat er sich durch seine Art, sich für alles verantwortliche zu fühlen, Anerkennung und Einfluss in der Firma gewonnen. In letzter Zeit gab es zunehmend Konflikte mit den Brüdern, sodass er beschlossen hat, aus der Firma auszusteigen. Bei der letzten Besprechung kam es zur Eskalation, sodass er sogar handgreiflich wurde. Jetzt möchte er seinen Konflikt durch eine Aufstellung klären.
Aufstellung: Den Bruder stellt er – in etwas ruppiger Art – weit entfernt, halb abgewandt auf. Auch er steht mit seinen beiden Selbstanteilen halb abgewandt.
Der Leiter legt einen Schal als Grenze zwischen beide und stellt neben den Bruder noch dessen Selbst, das ändert noch nichts.
Bei der Überprüfung der Rollen im Raum des Bruders zeigt sich, dass er sich sowohl auf dem Platz des Bruders („Kapitän auf dem fremden Schiff“) als auch auf dem Platz von dessen Selbst zuständig fühlt. Er glaubt, sein Bruder erwarte das von ihm!
Als ihm bewusst wird, wie sehr ihn dass von seinem eigenen Selbst entfernt, entscheidet er sich diese Rollen abzugeben.
Das Zurückgeben der übernommenen Verantwortung gelingt leichter, und es wird ihm bewusst, dass er dem Bruder mit der Bürde auch ein Stück seiner Würde zurück gibt.
Bei der Annäherung an sein erwachsenes Selbst fühlt sich dieses merkwürdigerweise nicht gross, sondern ihm gegenüber klein.
Der Leiter überlegt – das hat er noch nie erlebt. Da kommt ihm eine Idee: Richard hat sich als Jüngster zum Hauptverantwortlichen der drei Brüder gemacht! Um das zu symbolisieren nimmt er einen Hocker und fordert Richard auf, sich auf den Hocker zu stellen. Richard fühlt sich da so richtig gut!
Leiter: es scheint, du hast dich selber auf ein Podest gestellt. Das hindert dich daran, zu deinen Brüdern auf Augenhöhe zu sein, und offensichtlich bist du da auch nicht mit deinem Selbst verbunden. Meinst du, du kannst auf dies Podest verzichten?
Richard nickt, und steigt von dem Podest herunter. Jetzt fühlt sich sein Selbst gesehen und zugehörig und die beiden können sich verbinden.
Zum kindlichen Selbst ist noch Klärung erforderlich. „Ich hatte eine sehr schöne Jugend, aber mit 19 kam der Ernst des Lebens, da habe ich mich ganz in die Arbeit gestürzt. Richard bedauert gegenüber seinem kindlichen Selbst, dass er diese kindliche, lebendige Seite so vernachlässigt hat und verspricht ihm, dass es mehr Platz bekommt, und auch seinen Spass haben darf, „etwas anstellen darf“.
So verbunden mit beiden Selbstanteilen, fühlt sich Richard sehr vollständig.
Die Abgrenzung gegenüber dem Bruder fällt ihm leicht. Als Krafttier wählt der den Adler!
Leiter: „der Adler entschwindet in die Luft, entzieht sich den anderen, er hat auch kein Revier, das er verteidigt.“ Richard entscheidet sich für einen Löwen, und grenzt den Bruder mit einem Löwenschrei ab.
Wie wird es ihm bei der Gegenabgrenzung ergehen?
Als der Bruder ihm gegenüber sein Revier abgrenzt, wird er unwillig, so als sei das nicht rechtens, nicht abgemacht. Er kann die Grenze des Bruders nicht respektieren?!
Leiter: Du bist ein Löwe, und zu den Spielregeln zwischen Löwen – und zwischen Erwachsenen – gehört, dass jeder die Grenze des anderen respektiert. Wenn du in der „Löwen-Liga“ mit spielen möchtest, dann musst du diese Spielregeln respektieren! Wenn nicht – dann bleibt dir nur die „Adler-Liga“.
Richard stutzt, aber er kann das verstehen, und lernt, die Grenze des Bruders zu respektieren. Und es wird ihm bewusst, dass er „im fremden Terrain“ viel Energie, und ein Stück weit auch die Verbindung zu sich selbst verloren hat, ohne wirkliche Anerkennung und Erfolg dafür zu bekommen. Diese Einsicht macht es ihm leichter, die Grenze des Bruders zu respektieren.
Am Schluss fühlt er sich gut verbunden mit dem, was er eigentlich ist: seinem Selbst. Und zu seinem Bruder fühlt er sich entspannt, kann ihn so lassen wie er ist.
Kommentar
Eine derartige Konstellation habe ich noch nie erlebt – wahrscheinlich ist es selten, dass die derart Betroffenen bereit sind, eine Aufstellung zu machen! Ich war zunächst ratlos, wartete auf eine „Eingebung“ und war dann selber überrascht und dankbar für die Idee mit dem Hocker und für den Begriff der „Adler-Liga“. Das hat entscheidend zur Lösung beigetragen. Schön, dass in der Aufstellungs-Arbeit solche Lösungen auftauchen – wenn die Stellvertreter und der Leiter offen dafür sind.
Hallo Ero, mir fallen drei Dinge dazu auf:
1. Warum hast du das Thema “handgreiflich werden” nicht aufgegriffen? Dies ist mE das stärkste Symptom der Anamnese.
2. Normalerweise ergeben sich die geeigneten Lösungsvorschläge aus den Rückmeldngen der Stellvertreter. Mit der frühzeitigen Intervention der “Revierabgrenzung” durch dich hast du die Selbstorganisations- und -heilungskräfte geschwächt.
3. Vielleicht hängt Punkt. 1 mit 2. zusammen. Hast du Angst davor, Konflikte anzuschauen und dich ihnen auszusetzen?
Lieber Markus,
danke für deinen klaren Kommentar. Er gibt mir die Gelegenheit, mich noch deutlicher auszudrücken.
1. Meine Vorgehensweise unterscheidet sich grundsätzlich von deiner. Ich arbeite nicht am Symptom, sondern an der Struktur. und dazu gehört: Grenze, eigener Raum und Selbst.
Wenn diese Struktur wieder stimmt, dann lösen sich Konflikte wie von selbst. dann greift das, was du Selbstorganisation nennst.
2. Die zur Lösung führende Rückmeldung war die Bemerkung des SELBST-Stellvertreters: “neben dir fühle ich mich so klein”.
3. Lieber Markus, da unterstellst du mir etwas! kein Kommentar.
Lieber Ero,
danke für deine Stellungnahme.
Ich finde es legitim, dem Klienten eine strukturelle Lösung bereits vorzuzeichnen. (Wer mit gebrochenem Bein in’s Krankenhaus kommt, der kriegt ja auch immer die selbe Behandlung).
Dass meine Frage unter “3.” aber gleich eine “Unterstellung” sei, das kann ich nicht nachvollziehen. Für mich bleibt sie nach wie vor unbeantwortet stehen. Du hättest sie auch mit “ja” oder “nein” beantworten können.
“Dass meine Frage unter “3.” aber gleich eine “Unterstellung” sei, das kann ich nicht nachvollziehen.”
Du schreibst, im Zusammenhang mit deiner Kritik an meiner Vorgehensweise: “Hast du Angst davor, Konflikte anzuschauen und dich ihnen auszusetzen?”
Nach meiner Wahrnehmung verlässt du da die Ebene einer sachlichen Diskussion und vermutest bei mir eine Konfliktangst als Ursache meiner Vorgehensweise.
Angenommen, ich würde so mit dir argumentieren, wie würdest denn du so etwas benennen?
Gruss
Ero