Nach einer kurzen Zusammenfassung symbiotischer Muster im setting der Systemaufstellung erläutere ich im Folgenden das Phänomen der kollektiven Symbiose in Familien und anderen größeren Kollektiven und diskutiere Konsequenzen für die Aufstellungspraxis.
SYMBIOSEMUSTER IM SETTING DER SYSTEMAUFSTELLUNG
Systemaufstellungen, d.h. die therapeutische Arbeit mit Stellvertretern, sind hervorragend geeignet um Beziehungsstörungen sichtbar und bewußt zu machen. Unsere ersten Beziehungserfahrungen prägen unser Selbstbild, unsere Wahrnehmung, unsere Einstellungen und bestimmen so auch unsere späteren Beziehungen.
In der Systemaufstellung stellt der Klient die Beziehungskonstellationen seiner Familie mit Hilfe von Stellvertretern auf. Er setzt damit ein unbewußtes inneres Bild nach außen, gibt ihm auf einer symbolischen räumlichen Ebene Ausdruck. Das aufgestellte Familienbild spiegelt das Beziehungsgeflecht seiner Familie mit seinen Verwerfungen.
Auch die häufigen Symbiosemuster können mit Hilfe der Systemaufstellung bewußt gemacht und gelöst werden: die illusionären Versuche des Kindes, den Eltern früh verstorbene Angehörige zu ersetzen oder ihnen ihr Schicksal – Schmerz, Trauer, Schuld – abzunehmen.
Symbiotische Verschmelzung
Überraschend für mich war, wie deutlich – und wie häufig! – sich in einer Systemaufstellung das Phänomen darstellt, daß ein Klient sich auf dem Platz eines oder beider Elternteile besser auskennen als auf dem Eigenen. So als steckten sie noch in den Eltern drin, als würden sie sich selbst und die Welt durch die Augen der Eltern sehen, bzw. als seien sie „besetzt” von einem oder beiden Eltern, würden in ihrem Fühlen, Denken und Handeln noch von ihnen beeinflußt.
Dieser „Befund” der symbiotischen Verschmelzung drückt sehr anschaulich die verschiedenen Aspekte des Symbiosekomplexes aus,
nämlich das Gefühl des Klienten, nicht das Recht zu haben,
· sich als getrennt von den Eltern zu erleben,
· sich abzugrenzen,
· eine eigene Wahrnehmung zu haben,
· eigene Gefühle, besonders Wut, zu spüren und auszudrücken,
· eigene Bedürfnisse zu haben und zu vertreten.
Es resultiert eine Beeinträchtigung der autonomen Wahrnehmung, der Orientierung, der Identitätsfindung, kurz eine Störung der Autonomie, und das scheint die zentrale Ursache für Streß, für Beziehungsstörungen, für seelische (Verwirrung) und körperliche (Autoaggression) Erkrankungen zu sein.
Eine entscheidende Rolle spielt die Aggression: Anstatt sie einzusetzen, um sich abzugrenzen, um den Inneren Raum frei zu halten, neigen die Betroffenen dazu, sie zu unterdrücken – „um niemanden zu verletzen”. Auch die Wut, die dadurch entsteht, daß man nicht sein eigenes Leben lebt, wird unterdrückt. Es resultiert ein enormes Aggressionspotential, daß dauernd unterdrückt werden muß (Streß!) und droht, entweder unkontrolliert destruktiv nach außen zu brechen oder sich gegen das Selbst zu richten, als Selbstverletzung, Selbsttötung, in Form von Depression oder Krankheit.
Wegen dieser Beeinträchtigung der Autonomieentwicklung könnte man diese Form von Symbiose als schädlich oder maligne bezeichnen im Unterschied zu den „normalen” Symbiose-Phasen, welche für die Entwicklung der Autonomie hilfreich oder unentbehrlich sind: die Mutter-Kind Symbiose im Kleinkindalter, die Identifizierung des Heranwachsenden mit den Eltern, die Verschmelzung des Liebespaares.
Lösung der symbiotischen Verschmelzung
Die Systemaufstellung macht dem Klienten diese unbewußte symbiotische Verschmelzung drastisch sichtbar und bewußt: die Tatsache, „blinder Passagier” auf „Mutters Boot” zu sein, anstatt „Kapitän auf dem eigenen Boot”. Und sie macht ihm die Notwendigkeit einer Lösung evident.
Sie ermöglicht dem Leiter, dem Klienten auf einer symbolischen Ebene einen Abgrenzungsprozess anzubieten z.B. mit Hilfe folgender Ablösungsrituale und Lösungssätzen:
· Der Klient „steigt” bewußt aus der Mutter (dem Vater) aus, mit der (dem) er verschmolzen war,
· Er spricht einen Lösungssatz, z.B.: Du bist Du, ich bin ich, Du hast Dein Schicksal, ich habe meins, Du lebst Dein Leben, ich lebe meins,
· Er gibt dem Elternteil ihr Schicksal, ihre Trauer, ihren Schmerz, ihre Schuld symbolisiert durch einen schweren Stein zurück.
· Um den „Inneren Raum” zu befreien, ist es hilfreich, daß der Stellvertreter von Mutter (Vater) symbolisch die Grenze des Klienten überschreitet und dieser nachdrücklich den Elternteil aus seinem Bereich hinausschiebt. So lernt er modellhaft, sein Aggressionspotential konstruktiv für seine Abgrenzung einzusetzen.
Wenn dieser Prozeß stimmig ist, wenn der Klient die Erfahrung macht, abgegrenzt, bei sich zu sein und gleichzeitig die Nähe zum Elternteil zu spüren, dann kann er wieder Kontakt und Liebe zum Elternteil spüren, die durch die Symbiosemuster so lange verschüttet waren.
Dieser auf einer symbolischen Ebene vollzogene Prozess wird vom Klienten auf einer inneren unbewußten Ebene übernommen und kann so einen tiefgreifenden Veränderungsprozeß einleiten, ihn dabei zu unterstützen, seine eigene Wahrnehmung, seine Identität zu finden.
Symbiosemuster können als Überlebensstrategien verstanden werden. Wenn Eltern durch eigene oder frühere systemische Traumatisierungen selbst nicht ganz „bei sich” waren, so daß sie nur bedingt einen realen Ich-Du-Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen können, dann ermöglichte die Symbiose zumindest die Nähe und Wärme, die ein Kind zum Überleben benötigt.
Der Preis dafür ist jedoch sehr hoch: die mehr oder weniger eingeschränkte eigene Autonomie.
KOLLEKTIVE SYMBIOSE
In vielen Fällen zeigt es sich, daß ein Klient mit beiden Eltern und darüber hinaus mit anderen belasteten Familienmitgliedern symbiotisch verschmolzen ist. Meist waren bereits die Eltern mit ihren Eltern symbiotisch verschmolzen.
Nach meinen Erfahrungen findet man in symbiotischen Familien besonders schwere, oder wiederholte Traumatisierungen: früher Verlust einer Bezugsperson, Gewalt, Vertreibung, Flucht, Schuld. Derart traumatisierte Familien können offenbar ihren Kindern eine autonome Entwicklung mit der Fähigkeit, ihr Leben selbst zu bestimmen, nicht bieten. Die symbiotischen Beziehungsmuster ermöglichten jedoch zumindest das Überleben.
Diese Generationen übergreifende fehlende Abgrenzung erklärt auch das Phänomen eines kollektiven familiären Unbewußten, daß z.B. die Enkelin in sich Bilder und (Körper-)Gefühle von Vergewaltigungen trägt, die nicht sie selber, sondern ihre Großmutter auf der Flucht erlitten hat. (Bereits C.G. Jung hat ein familienbezogenes kollektives Unbewußte unterschieden von einem allgemeinen kollektiven Unbewußtem.) Anscheinend gibt es nicht wenige Familien, in denen symbiotische Bindungen die Regel sind und Abgrenzung, Auseinandersetzung, autonome Entwicklung und realer Kontakt eher die Ausnahme.
Symbiotischer Glaubenssatz
In Symbiotischen Kollektiven gibt es anscheinend so etwas wie einen gemeinsamen, für alle verbindlichen Glaubenssatz: die Aufgabe, ja die Existenzberechtigung eines jeden einzelnen besteht darin, die Bedürfnisse der anderen, besonders der (traumatisierten) Eltern zu erfüllen. Schon das Wahrnehmen, erst recht das Äußern eigener Bedürfnisse, eigener abweichender Gefühle und Gedanken hindert ihn an dieser Verpflichtung , und ist daher verboten!
Man könnte geradezu von einem verinnerlichten Wahrnehmungsverbot bzw. einem Abgrenzungs- und Identitätsverbot sprechen!
Das schwarze Schaf
Wenn ein Familienmitglied auszuscheren versucht, gegen dieses ungeschriebene Gesetz verstößt und sein eigenes Leben bestimmen möchte, reagiert eine symbiotische Familie mehr oder minder deutlich mit Sanktionen: der Betreffende wird moralisch als egoistisch oder undankbar abgewertet oder gar als verrückt erklärt, wird mit Ausschluß aus dem Kollektiv bedroht. So als wäre es für eine derartige Familie bedrohlich, wenn ein Familienmitglied eigene Wege geht, seine eigene Autonomie entwickelt, und dadurch das symbiotische Prinzip des Familienzusammenhalts in Frage stellt.
Für den Betroffenen ist die Ablösung von der Familie, das Finden zur eigenen Autonomie doppelt schwer, weil er unter Umständen als „schwarzes Schaf” die Zuwendung der ganzen Familie verliert. Darüber hinaus bewirkt der „Glaubenssatz” seiner Familie, den er bereits früh verinnerlicht hat, daß er sich dafür schuldig fühlt. Das kann ihn daran hindern, seine Freiheit zu genießen und Erfolg zu haben.
(Bert Hellinger hat dies mit Recht als das „kollektive Gewissen” bezeichnet, aber meiner Meinung nach nicht genug die Notwendigkeit betont, dies kollektive Gewissen in Richtung auf ein persönliches Gewissen zu überwinden.)
Die Ausgrenzung eines „schwarzen Schafes” als Sündenbock und dessen eventuelles Scheitern verstärken wiederum das symbiotische Muster der Familie, stabilisieren das systemische Kollektiv im Sinne einer Selbstregulation.
KOLLEKTIVE SYMBIOSE – FOLGERUNGEN FÜR SYSTEMAUFSTELLUNGEN
„Systemische Verstrickungen”
Wenn es in einer Familie „Schwarze Schafe”, verstoßene und ausgeklammerte Familienmitglieder gibt, ist das meist bereits ein Hinweis auf eine kollektive Symbiose und früheres Trauma. Auch das häufige Phänomen, daß Kinder verstoßene oder früh verstorbene Familienmitglieder vertreten, ist nicht „schicksalhafter Ausgleich des Sippengewissens” (Hellinger) sondern Ausdruck der in dieser Familie bestehenden Symbiosetendenzen.
Systemische Verstrickungen sind nicht allgemein menschliche Phänomene, sondern immer Ausdruck symbiotischer Verklebungen!
Um den Betroffenen aus seiner „Verstrickung” mit einem belasteten Angehörigen zu befreien, habe auch ich früher, wie viele ander Aufsteller auch, den Klienten aufgefordert, dieses belastete Familienmitglied „anzusehen”, sich vor ihm zu verneigen, um die „blinde Liebe” – die das fremde Schicksal nachahmt, durch die „sehende Liebe” zu ersetzen, welche den Anderen sieht und achtet und sein Schicksal bei ihm läßt.
In dieser Sichtweise klingt bereits das Symbiosethema an.
Inzwischen habe ich jedoch erfahren müssen, daß diese Vorgehensweise nur selten und nur in leichteren Fällen geeignet ist, eine symbiotische Verstrickung zu lösen. Nicht selten ging es dem Klienten nach einer solchen Aufstellung nicht wirklich besser – weil das Symbiosethema nicht gelöst war? Zunächst vermutete ich, weitere ungelöste Schicksale aus der Familie des Klienten seien dafür verantwortlich. Zusammen mit ihm suchte ich und fand sie und stellte sie auf!
Den Klienten ging es nach derartigen Aufstellungen bisweilen schlechter als zuvor. Inzwischen weiß ich: Statt den Klienten bei seiner Abgrenzungsbemühung gegenüber den schweren Schicksalen seines Systems zu unterstützen, hatte ich ihm noch weitere, ihm bisher unbekannte Schicksale „auf die Seele gebunden.”
Heute scheint mir ein sorgfältiger Lösungsprozeß der symbiotischen Verschmelzung unabdingbar, um dem Klienten den „Inneren Raum” für eine eigene Wahrnehmung, für seine eigene Identität zu geben. Dann ist es auch nicht mehr erforderlich, jedes schwere Schicksal seiner Familie aufzustellen, damit er sich davon distanzieren, zu sich selbst finden kann.
Kollektive Symbiosen außerhalb der Familie
Aspekte der Kollektive Symbiosen, besonders das Phänomen, daß Einzelne in ihrer Wahrnehmung, in ihrem Handeln nicht frei sind, sondern durch den Druck der Gruppe beeinflußt werden, finden sich auch außerhalb der Familie: in der Schule, am Arbeitsplatz, in Vereinen, Verbänden, in Therapieschulen in weltanschaulichen und religiösen Gruppierungen. In besonders extremer Form begegnen uns diese Phänomene in Sekten, wie z.B. den Zeugen Jehovas, die jedem Mitglied, daß sich trennen möchte, mit der ewigen Verdammung – Hamaggedon – bedrohen.
Die Klienten, die durch das Verlassen derartiger symbiotischer Kollektive in eine Identitätskrise geraten sind, kann eine Systemaufstellung dabei unterstützen, die symbiotische Verschmelzung zu lösen, und einen inneren Raum zu entwickeln, in dem ihr Selbst seinen Platz finden kann.
Der Clan als symbiotisches Kollektiv
In prähistorischen Zeiten, als das individuelle Ich-Bewußtsein sich noch nicht entwickelt hatte, weil ein Leben außerhalb des Clans schlicht undenkbar war, identifizierten sich – so muß man wohl annehmen – alle mit ihrem Clan. Das war für das Überleben unabdingbar. Erst mit dem Ackerbau, der Arbeitsteilung, den ersten Stadtgründungen, der Entwicklung der Schrift war auch die Entwicklung eines abgegrenzten Ich-Bewußtseins möglich.
Der Bauernhof
Der Bauernhof war über Generationen hinweg die Lebensgrundlage der Familie. Starb der Bauer vorzeitig, so war es selbstverständlich, daß andere seinen Platz einnahmen, die Bäuerin, der Sohn, auch wenn er noch nicht volljährig war, fuhr selbstverständlich den Traktor, gegebenenfalls sprang ein Bruder, eine Schwester des Verstorbenen ein, soweit sie irgend dazu in der Lage waren.
Diese Zusammenhänge können ebenfalls als Ausdruck einer kollektiven Symbiose verstanden werden. Für Klienten aus bäuerlichern Familien ergeben sich daraus noch heute heftige Konflikte.
Zwar kommt es nicht zu so schweren Identitätsverwirrungen, wie in anderen kollektiven Symbiosen – vielleicht weil die Zusammenhänge offen sichtbar sind? – aber das Bewußtsein, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen, ist in solchen Familien naturgemäß nicht immer selbstverständlich.
KOLLEKTIVE SYMBIOSE ALS URSACHE UND FOLGE ETHNISCHER KONFLIKTE
Blutrache
Nikos Kazantzakis beschreibt in seinem Roman „Freiheit oder Tod” (im Original „o kapetan michalis” 1953) das Leben eines kretischen Clanoberhauptes unter der türkischen Besetzung.
Immer wieder hatten sich die stolzen Kreter gegen das Unrecht, die Demütigungen, die Grausamkeiten der Türken erhoben, hatten Gleiches mit Gleichem vergolten und wurden wieder niedergeschlagen, gemordet, geschändet. Die Familie eines Ermordeten hatte die Pflicht, „das Blut zurück zu nehmen”, um die Ehre der Familie zu wahren. Alle wußten, daß die Aufgabe dem nächsten, kampffähigen Angehörigen zufiel. Jeder Einzelne identifizierte sich mit der schändlichen Ermordung des Angehörigen, und fühlt das Recht und die Pflicht, aus Rache den Täter oder seinen nächsten Angehörigen zu töten, als sei er persönlich davon betroffen. Alle wußten, daß die Aufgabe dem nächsten, kampffähigen Angehörigen zufiel, und erwarteten von ihm, daß er sie erfülle. Vom Vollzug dieser Pflicht zur Blutrache konnte den Betreffenden auch nicht die Tatsache abbringen, daß er dadurch sein eigenes Leben und das seiner männlichen Angehörigen, seiner eigenen Söhne riskierte.
Offensichtlich wirkt hier die Dynamik einer kollektiven Symbiose. Deutlich wird, daß diese Dynamik verschärft wird durch die kollektive Erfahrung von Unrecht, Gewalt und Demütigung.
Wir fühlen uns berechtigt, Blutrache als inhuman abzulehnen.
Aber ist diese Symbiose maligne oder unterstützt sie eine kollektive Autonomie? Hat Blutrache einen Sinn und wenn ja, welchen?
Auch wenn die Blutrache buchstäblich einen hohen Blutzoll erfordert hat, so war sie doch geeignet, über die Jahrhunderte der türkischen Unterdrückung hinweg den völligen Verlust der Selbstachtung, die totale Lähmung des hilflos Ausgeliefert-seins der Kreter zu verhindern. UND sie kanalisierte die angestaute Aggression in einem gesellschaftlich anerkanntem Ritual. Sie ermöglichte so eine Art von Handlungsfähigkeit, schaffte Vorbilder, mit denen Spätere sich identifizieren konnten. Das gab ihnen die Kraft, sich in gleicher Weise für die Freiheit und Unabhängigkeit einzusetzen, und koste es das eigene Leben. Vielleicht war die schließliche Befreiung Kretas nur dadurch möglich?
Eine ähnliche Dynamik mag die Konflikte ethnischer und religiöser Gruppen in Nordirland, Spanien und anderswo beeinflussen.
Blutrache wie auch Selbstmordattentate könnten für eine Volksgruppe, die der Gewalt und den Demütigungen eines überlegenen Gegners ausgesetzt ist, die systemische Funktion haben, die Selbstachtung und das Gefühl von Handlungsfähigkeit zu erhalten, die unterdrückte Aggression zu kanalisieren und so eine kollektive Resignation, Apathie und Depression zu verhindern.
DEUTSCHLAND – EIN SYMBIOTISCHES KOLLEKTIV?
Das Phänomen der Überanpassung in unserer Gesellschaft
Mir scheint, daß viele Probleme der Gegenwart dadurch verursacht sind, daß sich bei uns unbemerkt eine Tendenz zur Überanpassung breit gemacht hat. Eine Neigung, sich zu schnell sogenannten Sachzwängen, einer nicht hinterfragten angeblichen Realität, den bestehenden Machtgruppen und ihren Interessen anzupassen. Eine ähnliche Tendenz der Überanpassung zeigte sich nach Ende des zweiten Weltkrieges in der unkritischen Übernahme amerikanischer Begriffe, Konsumartikel, Filmen, Wertvorstellungen („Identifikation mit dem überlegenen Gegner”). Auch die verbreitete Tendenz, sich manipulieren zu lassen, sich von Medien abhängig zu machen, kann in diesem Sinne gesehen werden.
Arno Gruen beschreibt das seit zwanzig Jahren in seinen Büchern, angefangen mit „Der normale Wahnsinn, Realismus als Krankheit” und „Verrat am Selbst, die Angst vor der Autonomie”, bis hin zu “Der Fremde in uns”.
Gerade angesichts einer gefährdeten Zukunft, die durch Verknappung der Ressourcen, Umweltbelastung, Klimawandel und Krieg bedroht wird, ist der klare Blick für die Zusammenhänge und eine Orientierung an dem langfristigen gemeinsamen Wohl dieses Planeten gefordert, bei den führenden Köpfen der Wirtschaft, der Politik – aber auch bei denen , die sie in ihre Ämter wählen.
Wenn man jedoch genauer hinschaut, wie Politiker aber auch z.B. die Verantwortlichen der Automobilfirmen den Aspekt der Klimabelastung herunterspielen, wie erfolgreiche Firmen von cleveren Managern im Interesse eines kurzfristigen Gewinnes kaputtsaniert werden, dann scheint es, daß die meisten sich an kurzfristigen Zielen orientieren, die primär ihnen selber dienen. So als wären sie und ihre Familien, ihren Kindern und Enkeln nicht genauso von den Folgen der ungelösten Probleme betroffen, wie alle anderen.
Fast scheint es, als hätten nicht nur sie sondern wir alle die Verbindung zu unseren Sensoren, zu uns selbst verloren. Aber wenn wir unser Handeln nicht mehr nach unseren Sensoren orientieren, geht dann nicht auch die Voraussetzung für eine globale Selbstregulation verloren? Wie kann ein Autofahrer, der mit 160 auf den Abgrund zu steuert, rechtzeitig bremsen, wenn er so tut, als beträfen die Folgen nicht ihn und seine Familie persönlich? Ist das nicht kollektive Verwirrung? Und ist diese Verwirrung vielleicht der Grund dafür, daß unser Globus immer mehr ins Trudeln gerät?
Begegnen wir nicht auch hier Aspekten einer kollektiven Symbiose, welche droht, die globale Selbstregulation auszuhebeln?
„Verrat am Selbst”
Fehlt es da nicht an Mitgefühl mit dem anderen, aber genauso an einem Gefühl für die ureigensten vitalen Bedürfnisse und Interessen? Fehlt es nicht an einer authentischen, autonomen Wahrnehmung der Realität.
Fehlt es nicht am Mut, an der Fantasie, eigene unkonventionelle Lösungen auch gegen den allgemeinen Trend zu suchen und umzusetzen? Dominiert nicht eine Tendenz, auf die eigene autonome Handlungsfähigkeit zu verzichten, sich mit den Interessen, Wünschen und Erwartungen von ich-weiß-nicht-wem zu identifizieren, von dem man sich abhängig fühlt, der gerade das Sagen hat?
Fehlt nicht das, was man früher als Zivilcourage bezeichnet hat?
Wird da nicht die Chance einer selbstbestimmten Zukunftsgestaltung versäumt durch ein vorschnelles, unkritisches Orientieren an fraglichen äußeren „Autoritäten”, windigen „Sachzwängen”?
Werden nicht unsere Kinder bereits in der Schule – allen Appellen zur Selbständigkeit zum Trotz – in erster Linie auf Anpassung getrimmt, von Lehrern, denen selbst die Freude am Lehren durch eine bürokratische Ausbildung und Verwaltung ausgetrieben wurde? Angeblich um die schulischen Leistungen zu verbessern (Pisa!).
Zeigt nicht unsere gesamte Gesellschaft Aspekte eines symbiotischen Kollektivs?
Und ist nicht dies Phänomen ein sehr deutsches?
Lenin, der ursprünglich seine revolutionären Ideen in Deutschland verwirklichen wollte, erkannte bald, daß dies mit den Deutschen nicht gelingen konnte: „wenn sie einen Bahnhof besetzen wollen, kaufen sie zuerst eine Bahnsteigkarte”.
Kollektives Trauma
England hat, zum Vergleich in den letzten 500 Jahren innere Ruhe und bis 1940 keinen Krieg im eigenen Land gehabt. Dagegen bei uns Jahrhunderte der Unterdrückung, der Hungersnöte, das Grauen und die Not von zwei Weltkriegen, ging es da nicht oft um das nackte Überleben?
Traumata verstärken symbiotische Tendenzen, das gilt offensichtlich auch für Kollektive, für Gesellschaften!
Und wir sind – leider? – anders als die Kreter, bei uns gab es keine Blutrache, keine Tradition des Widerstands gegen die Obrigkeit wie z.B. auch in Italien. Die Unangepaßten, die Querköpfe, die Revoluzzer sind seit Jahrhunderten ausgewandert, oder in den Verliesen gestorben, die „Braven” sind geblieben.
Was geschah mit ihrer über Jahrhunderte lang unterdrückten Wut?
Kollektives Verbrechen
Die Zeit der Nazi-Herrschaft zeigt in einer besonders ausgeprägten Weise Aspekte einer kollektive Symbiose, Denk- und Wahrnehmungsverbote waren nicht unbewußt wirksam, sondern wurden ganz offen mit terroristischen Strafandrohungen erzwungen. Auch das von Deutschen begangenen ungeheuere Verbrechen des Genocids an den Juden könnte in einem anderen Licht erscheinen – ohne es in irgendeiner Weise zu relativieren: als kollektiver destruktiver Ausbruch einer Jahrhunderte lang unterdrückten kollektiven Aggression, die in grauenhafter Perfektion von den vielen symbiotisch Überangepaßten an einem Volk verübt wurde, das immer mehr zum Sündenbock („Schwarzes Schaf“) gemacht worden war. Das Volk, das andrerseits seit Jahrhunderten in einer eigenartigen Seelenverwandschaft und in einer intensiven künstlerischen und wissenschaftlichen Verflechtung mit Deutschen zusammenlebte.
Das unvorstellbare Verbrechen des Holocaust ist auch nach 60 Jahren unverständlich. Es wirkt wie ein Zivilisations-Schock weiter, besonders natürlich auf Juden und Deutsche, indirekt über den Nahostkonflikt, den islamischen Terror auf das globale Geschehen. Möglicherweise ist das Konzept der kollektiven Symbiose geeignet, dieses kollektive Geschehen genauer zu verstehen. Dabei scheint es, daß ohnehin bestehende Tendenzen zur kollektiven Symbiose durch dies Trauma zusätzlich verstärkt wurden, bei den Nachkommen der Täter, aber auch den Nachkommen der Opfer.
Das erschwert das notwendige Studium dieser Katastrophe. Wenn auch die Wissenschaftler von dieser Symbiose betroffen sind – die sie als Treue zum Schicksal ihres Volkes mißverstehen – dann bringt das auch sie in das Dilemma zwischen einerseits Überschwemmung/Verschmelzung, bis hin zum buchstäblichen Verrücktwerden, oder einer Überabgrenzung als Überlebensstrategie. Beides verhindert eine nüchterne wissenschaftliche Untersuchung. Diese ist nur möglich mit einer Distanz, dem Bewußtsein des Abgegrenztseins, in dem Sinne, daß die Schicksale der Täter und der Opfer – selbst wenn es eigene Verwandte sind – nichts mit der eigenen Identität zu tun haben! Das klingt manchen wie Verrat, wie Flucht!
Das Konzept der kollektiven Symbiose könnte somit sowohl der Schlüssel zu einem Verständnis des Holocaust , als auch die Voraussetzung für eine nüchterne Analyse sein.
Merkwürdigerweise ist die Begriffskombination “kollektive Symbiose” bei Google nur einmal erwähnt, so als gäbe es ein unbewußtes Verbot, dies Phänomen überhaupt wahrzunehmen?
Kollektive Wahrnehmungsstörung
Es scheint, daß uns die Zusammenhänge unserer eigenen kollektiven Symbiose unbewußt sind, von uns gar nicht wahrgenommen werden, vielleicht nicht wahrgenommen werden dürfen, entsprechend einem unbewußten Wahrnehmungsverbot.
Appelle und Analysen alleine nützen da nichts.
Anscheinend ist eine Änderung des individuellen und kollektiven Bewußtseins erforderlich, entsprechend einer neuen Aufklärung? Da immer mehr Menschen persönlich unter den Aspekten einer (kollektiven) Symbiose leiden und Hilfe suchen, könnte Therapie einen Beitrag zu dieser Aufklärung leisten, wenn und insoweit sie diese Zusammenhänge bewußt macht.
Systemaufstellungen und kollektive Symbiose
Wie ich aufzuzeigen versuchte, bieten Systemaufstellungen in einem besonderen Maße die Möglichkeit, dem Klienten seine symbiotischen Muster bewußt zu machen und Lösungen anzubieten, die sich auf der individuellen, aber auch auf der kollektiven Ebene auswirken können. Leider ist diese Methode durch unprofessionelle Handhabung in Verruf geraten. Es scheint außerdem, daß viele Aufstellungsleiter noch gar nicht wissen, was für ein wertvolles und kraftvolles Instrument sie mit den Systemaufstellungen in der Hand haben?
Vielleicht hängt das damit zusammen, daß sie mit Hellinger die von ihm eingeführten Begriffe Sippengewissen und Familienseele als schicksalhafte Instanzen verstehen, die nicht in Frage gestellt werden dürfen, während sie aus der hier geschilderten Perspektive als Synonyme für kollektive Symbiose erscheinen?
Könnte es sein, daß dieses Mißverständnis Hellinger und denen, die sich an ihm orientieren, den Blick für die kollektive Symbiose verstellt und dadurch deren Lösung verhindert? Daß dadurch die Lösungen im Rahmen der kollektiven Symbiose bleiben?
Um ein Bild aus der Comutertechnick zu verwenden: könnte es sein, daß das traditionelle Familienstellen mit dem “Betriebssystem” Symbiose läuft – und daher betriebsblind für das Thema Symbiose ist?
Dann würde erst ein Wechsel des Betriebssystems erlauben, das Symbiosethema zu erkennen und Lösungen zu entwickeln.
Andrerseits würde das erklären, warum viele “klassische Familienaufsteller” mit dem Verschmelzungsthema nicht viel anfangen könen.
Das wäre eine bizarre Situation!
Die hier skizzierte Vorgehensweise von Systemaufstellung legt besonderen Wert darauf, die Entwicklung von Autonomie und Identität zu unterstützen, – sie entspricht einem anderen “Betriebssystem”. Im Unterschied zu Hellingers Verständnis könnte man sie daher wegen ihres emanzipatorischen Charakters als “initiatische” Systemaufstellung oder als Systemische “Initiation” bezeichnen.