ARBEITSLOS, GEWALTTÄTIG UND ALKOHOLMISSBRAUCH ODER DIE ESKALATION VON HASS UND SELBSTHASS
C., 20 Jahre kommt zur ersten Beratung.
Er hat die Lehre nach zwei Jahren abgebrochen, war zwei Jahre arbeitslos. Jetzt hat sich seine Freundin von ihm getrennt, da er ihr immer “auf der Tasche lag”. Vor einigen Tagen hat ihn seine Mutter aus der Wohnung geschmissen. Er hatte mit der Polizei zu tun bekommen, Gewalt, Alkohol.
Eine Tante, die die Aufstellungsarbeit kennt, hat mit ihm eine Übung gemacht, bei der er symbolisch einen Stein abgeben sollte, für fremde, von ihm übernommene Last.
Er konnte den Stein nicht abgeben.
Deshalb kommt er zur Beratung!
Familienanamnese:
C. ist der 2. von 4 Kindern, der Vater, alkoholkrank und gewalttätig gegen die Mutter, verliess die Familie , als er 2 Jahre alt war. Das 3. und 4. Kind sind von einem anderen Mann, ebenfalls alkoholkrank.
Aufstellung
C. sucht für sich einen Platz, stellt einen Stuhl als Repräsentant für den Vater in 3 m Entfernung gegenüber. Sofort spürt er Wut auf den Vater.
Dann stellt er zwei weitere Stühle auf, einen Repräsentaten für den Teil seines Selbst, der unbeschwert und frei ist, der Erfolg in der Arbeit haben kann, der eine Beziehung haben kann. Dieser Teil steht 2 m entfernt von ihm, abgewandt.
Und einen weiteren Stuhl für den Teil seines Selbst, der sich klein und hilflos fühlte. Den mag er nicht. Er stellt ihn 6 m entfernt auf, abgewandt.
Beziehung zum Vater
Als erstes drückt er seine Gefühle aus:
“du hast die Mutter so verletzt, ich hasse dich dafür und ich stehe dazu.”
Das erleichtert ihn.
Dann stellt er sich an Vaters Platz. Dort fühlt er sich stark. Wahrscheinlich ist er mit Vater identifiziert.
Lösen der symbiotischen Identifizierung
“Zur Sicherheit” steigt er aus und sagt zu seinem Vater:
“Du bist du, ich bin ich, du hast dei Schicksal, ich hab meines, du lebst dein Leben und ich lebe mein Leben. Und mein Leben darff anders sein als deines!”
Das ist ungewohnt, fühlt sich aber stimmig und befreiend an!
Rückgaberituale
Als nächstes nimmt er einen schweren Stein als Symbol für Vaters Schicksal:
“falls ich da unbewusst etwas trage, als wäre es mein eigenes, lasse ich es ab sofort bei dir!”
Er kann den Stein beim Vater lassen.
Nun fühlt er sich erleichtert, wie befreit.
Leiter: “Hast du vielleicht dem Vater etwas von deiner eigenen Energie abgegeben, z.B. damit es ihm besser geht?
er nickt.
“Möchtest du das wieder zurück?”
Ja
“Ist es OK, wenn ich dir das zurück gebe?”
er nickt.
Der Leiter haucht ihm symbolisch seine eigene Energie zurück, in die Herzgegend, am Scheitel, in den Rücken.
C. hat das Gefühl, dass seine eigene Energie wieder zu ihm zurück kommt.
Verbindung mit eigenen Selbstanteilen, erster Teil….
Leiter:”Willst du den Teil von dir kennenlernen, der sich frei und unbeschwert fühlt?”
Er zögert. Er kennt diesen Teil noch gar nicht!
“Er gehört zu deiner Grundausstattung dazu, du kannst ihn gar nicht verlieren. Aber vielleicht hast du noch keine Verbindung zu ihm?”
Neugierig geht er auf den Stuhl seines Selbst zu, nimmt das runde Kissen, hält es an seine Brust, als wolle er diese Energie kennenlernen, als wolle er sich mit dieser Energie verbinden.
Er strahlt. “das gebe ich nicht mehr her!”
Den Selbstteil, der sich hilflos fühlt, mag er nicht.
Leiter: “Um mit deinem starken Selbstanteil verbunden zu bleiben, brauchst du eine Grenze zu deinem Vater, brauchst du so etwas wie einen sicheren inneren Raum, damit du so sein kannst, wie du bist, unabhängig davon, was andere davon halten.
Bist du bereit, deine Genze gegenüber deinem Vater zu schützen?”
Er zögert nur kurz und nickt.
Abgrenzungsritual
Der Leiter vertritt den Vater, geht auf seine Grenze zu und er darf ihn bei den Schultern fassen und zurückschieben.
Beim ersten mal wartet er noch, bis der “Vater” dicht vor ihm steht, um ihn dann kraftvoll zurück zu schieben.
Nach entsprechender “Aufklärung” durch den Leiter gelingt es ihm von mal zu mal besser, seine Grenze zu schützen. Am Schluss stürmt er , “wie ein Leopard” den Leiter zu, mit funkelnden Augen.
Der Leiter: “das ist ganz gesund. Und wenn du dein aggressives Potential für deine Abgrenzung, für deinen Selbstschutz einsetzt, dann kann es sich nicht mehr anstauen und destruktiv werden, gegen andere – Gewalt – oder gegen dich selbst: Alkohol.”
Verbindung mit dem Selbst, 2.Teil
Nun kann er sein “starkes Selbst” besser spüren als zuvor.
Leiter: “da hinten ist noch der Teil von dir, der sich schwach und hilflos fühlt. Damals konntest du ihn nicht schützen. Jetzt bist du erwachsen und könntest ihn gut schützen.”
Er schaut nachdenklich.
Wenn du diesen Teil ablehnst, ihn “vor die Tür schickst”, kommt er zur Hintertür wieder herein und er geht – ohn das du es merkst ins cockpitt, dreht am Steuer und du wunderst dich dann über den Kurs deines Schiffes!”
Das kommt ihm bekannt vor.
“Dieser Teil braucht nicht viel, nur, dass du ihn umarmst, auch wenn keiner ihn bisher umarmt hat.
Und wenn er dann ans Steuer will, bist du dabei und du kannst den Kurs deines Schiffes bestimmen!”
Das leuchtet ihm ein. Und er geht auf den kleinen C. zu, nimmt das Kissen, das ihn repräsentiert, in den Arm, als Zeichen dafür, dass auch dieser Teil zu ihm gehören darf.
Am Schluss spürt er beide Teile, den starken und den kindlichen.
Er strahlt. Jetzt fühlt er sich vollständig!
KOMMENTAR:
C.war unbewusst symbiotisch mit seinem Vater verbunden. Obwohl er seinen Vater verachtet und gehasst hat! Verachtung und Hass können geradezu als verzweifelter Versuch verstanden werden, sich aus dieser Symbiose zu lösen. („Überabgrenzung”) Aber es ist wie in einem Sumpf: je mehr man sich dagegen wehrt, um so mehr zieht es einen hinein.
Offensichtlich konnte sich C. seinem Vater gegenüber nicht abgrenzen.
Infolge der frühen Trennung von Vater – und der Erfahrung von Gewalt? – gelang es ihm nicht, eine eigene Grenze, einen „geschützten inneren Raum” zu errichten, in dem er ganz er selbst sein kann. So konnte er nicht zwischen sich und dem Vater unterscheiden, hielt Vaters Eigenschaften, Vaters Schicksal für sein Eigenes. („Falsches Selbst”). Das trennte ihn von seinem eigentlichen Selbst. Und so wie er den Vater hasste und verachtete, hasste und verachtete er nun sich selbst! Das verstärkte noch den Hass auf den Vater, den er für sein eigenes Unglück verantwortlich machte. DIESE ESKALATION VON HASS UND SELBSTHASS KANN ZU MORD UND SELBSTMORD FÜHREN!
Die „symbiotische Verwirrung” besteht darin, dass C. sich mit dem Vater – statt mit dem eigenen Selbst – identifiziert und sich gegenüber dem eigenen Selbst – anstatt gegenüber dem Vater – abgrenzt, so als gehöre es gar nicht zu ihm.
Ohne diese Grenze kam es zu einer „Vermischung” mit Vaters Schicksal und zu einem „Verlust” des Eigenen.
Die Lösung besteht logischerweise darin, die Grenze zum Vater wieder aufzubauen. Dann ist es möglich – durch die Rückgaberituale – das übernommene Fremde an den Vater zurückzugeben und das verlorene Eigene wieder zu integrieren.
Durch diese „systemische Selbst-Integration” wird die Eskalation von Hass und Selbsthass unterbrochen.
Der Klient findet zu sich selbst, zu seiner Würde zurück. Und er kann dem Vater – trotz allen Schlimmen – seine Würde lassen.