LEBEN
EINZELN UND FREI
WIE EIN BAUM
UND BRÜDERLICH
WIE EIN WALD
DAS
IST UNSERE SEHNSUCHT!

[Nazim Hikmet]

Stavros Mentzos1 geht in seinem “Bipolaritäts-Modell” von zwei Grundbedürfnissen des Menschen aus:

  • dem nach Nähe und Bindung, und
  • dem nach Autonomie und Freiheit.

Mentzos findet bei Klienten mit schizophrenen und depressiven Störungen eine Unfähigkeit, diese beiden Bedürfnisse miteinander zu verbinden. Die Symptome dieser psychischer Störungen versteht er als Kompensationsversuche für dieses „DILEMMA“, und nicht als Defizit!
Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen scheinen geeignet, dieses DILEMMA als Ausdruck einer rigiden, destruktiven Symbiose zu begreifen. Das eröffnet neue Lösungs-Strategien.

Symbiose und Selbst-Entfremdung
Selbst-Entfremdung und Selbst-Verlust können verstanden werden als Folge symbiotischer Anpassungs-Strategien eines traumatisierten Familiensystems, die über Generationen hinweg weitergegeben werden.
Wenn Eltern auf Grund eigener Gewalt-oder Verlusterfahrungen für ihre Kinder als Eltern nicht erreichbar sind, dann können Kinder nicht Kinder sein.
Um jedoch das Grundbedürfnis nach Nähe und Bindung zu stillen, identifizieren sie sich mit dem, was die Eltern in ihnen sehen, von ihnen erwarten („falsches Selbst“, Winnikott, „Persona“ als Teil der „kollektiven Psyche“ bei C.G.Jung). Sie glauben dann unbewusst, den Eltern früh verstorbene Angehörige oder den Partner ersetzen zu sollen – z.B. Parentisierung – oder ihnen ihre Last, ihre Trauer, Schmerz oder Schuld abnehmen zu müssen.
Um sich derart symbiotisch an die Eltern anpassen zu können, müssen sie jedoch ihr zweites Grundbedürfnis, das nach Autonomie und Freiheit zurückstellen. Sie unterdrücken eigene zentrale Selbst-Anteile, spalten kindliche Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse und die lebenswichtigen Aggressions-Impulse ab, verlieren damit ihre Abgrenzungsfähigkeit.
Diese rigide Symbiose, die immer mit Selbst-Entfremdung verbunden ist, muss als destruktiv bezeichnet werden, im Unterschied zu flexiblen, vorübergehenden symbiotischen Phasen einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.
Wenn diese zentralen Selbst-Anteile nicht mehr zur Verfügung stehen, die zusammen so etwas wie eine eigene Orientierungs-Instanz ausmachen, ist keine eigene „autonome“ Orientierung mehr möglich, Auseinandersetzung, Identitätsfindung und persönliches Wachstum sind blockiert. Das verstärkt wiederum, im Sinne eines Teufelskreises, die Tendenz zu symbiotischer Anpassung, zu symbiotischem Verschmelzen mit dem Gegenüber und umgekehrt!
Das ist das DILEMMA: die Betroffenen können in der Nähe zum Gegenüber sich selbst nicht mehr spüren. Um bei sich selbst sein zu können, müssen sie auf die Nähe zum Gegenüber verzichten. Sie können nicht die beiden Grundbedürfnisse mit einander verbinden, sie können sich nicht im Kontakt abgrenzen!

„Kollektive Symbiose“…..
Symbiosemuster werden oft von Generation zu Generation weitergegeben. Wenn Klienten „nicht Kind sein konnten“, dann erwarten sie oft unbewusst von ihren Kindern den Halt, die Sicherheit, die Orientierung, die sie von ihren Eltern nicht bekommen konnten. Sie können ihren Kindern den Halt von Grenzen nicht geben.
Es sind besonders traumatisierte Familiensysteme, die so zu einem symbiotischen Kollektiv werden. Sie entwickeln eigene, selbst-stabilisierende Mechanismen, ein eigenes Werte- und Glaubens-System, welches das Bewusstsein der Familien-Mitglieder bestimmt. Erwünscht ist eine Haltung des „für die anderen zur Verfügung stehen“, „Prothese“ zu sein für die „Amputationswunden“ eines anderen.
Das Leid der Symbiose wird so zur Tugend der „Loyalität“ umgedeutet: Selbst-Losigkeit und unabgegrenztes Mit-Leiden werden als Zeichen von Liebe verstanden. Abgrenzung, Selbst-Bestimmung, Autonomie werden als Verrat, als egoistisch, als verrückt diffamiert. Das stiftet eine zusätzliche Verwirrung und erschwert die Wahrnehmung des Symbiose-Komplexes.
Dies Phänomen der Kollektiven Symbiose finden sich auch ausserhalb der Familie, in Betrieben, Therapie-Schulen, Sekten, ja in ganzen traumatisierten Volksgemeinschaften. Staatlicher Terror kann die individuelle Autonomie brechen, – „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“- führt zu Anpassung und Unterwerfung, zur kollektiven Selbst-Entfremdung. Das verstärkt auch die familiären Symbiose-Muster.

als Überlebens-Strategie?
Eine „kollektive Symbiose“, dies „symbiotische“ Selbstverständnis, dass der Clan vor dem einzelnen Mitglied Vorrang hat, war vielleicht für die Familienverbände unter den Extrembedingungen der menschlichen Frühzeit eine Überlebensstrategie.
Seit dreitausend Jahren entwickelt sich jedoch etwas Neues: ein vom Clan abgegrenztes Ich-Bewusstsein. Der griechische Held Odysseus ist ein Beispiel für dieses neue Bewusstsein.
Vielleicht kann das Auftreten der „kollektiven Symbiose“ in traumatisierten Systemen als eine Art von „Regression“ verstanden werden, als Rückfall in ein entwicklungsgeschichtlich früheres Stadium.
Das Glaubens-System der kollektiven Symbiose verstärkt die Verwirrung und Selbst-Entfremdung der symbiotischen Familien-Systeme und belastet noch nach Generationen das „Aussteigen“ des Einzelnen mit massiven Schuldgefühlen („Abgrenzungsverbot“).

Das zweite Grundbedürfnis, das nach Autonomie, lässt sich jedoch auf die Dauer nicht unterdrücken. Die abgespaltenen Selbst-Anteile sind nicht einfach weg. Ungezähmt brechen sie ins Bewusstsein, stören die brüchige Harmonie, den „faulen“ Frieden und werden deshalb als zerstörerisch erlebt und noch stärker unterdrückt. Abgrenzung und Aggression richten sich immer mehr gegen eigene Selbst-Anteile. Das führt zu akuten Krisen, zur Zerrissenheit, zu einem Identitäts-Stress, zu psychosomatischen und somatischen Erkrankungen, zu einer spezifischen symbiotischen Verwirrung:
Die Betroffenen identifizieren sich mit dem Gegenüber – anstatt mit den eigenen Selbst-Anteilen.
Und anstatt vom Gegenüber grenzen sie sich von den eigenen Selbst-Anteilen ab.

Dieser Symbiosekomplex mit den Aspekten Anpassungstendenzen, Selbst-Entfremdung und Aggressionshemmung ist – so scheint es – die gemeinsame zentrale Ursache für Beziehungsstörungen, für seelische und körperliche Erkrankungen.

Vervollständigt wird dieser Symbiosekomplex noch durch spezifische Kompensations-Strategien: Um Verletzungen und Abhängigkeit zu vermeiden entwickeln manche eine Haltung der Überabgrenzung, der „Pseudo-Autonomie“. Sie lassen sich auf Nähe nicht mehr ein, unterdrücken ihr Mitgefühl, werden bitter, egoistisch, böse.
Andere, vitalere Naturen versuchen das Dilemma dadurch zu lösen, dass sie andere manipulieren, von sich abhängig zu machen, um ihre eigene Abhängigkeit nicht zu spüren. Diese Menschen entwickeln Macht, sie finden sich in den „oberen Etagen“ von Wirtschaft und Finanzwelt, suchen nur selten therapeutische Hilfe. Aber wenn der manipulierte Partner sich befreit, merken auch sie, wie abhängig sie eigentlich waren.
Diese Kompensations-Strategien können in unterschiedlicher Ausprägung und Mischungsverhältnissen auftreten.

LÖSUNG DURCH SYSTEMISCHE SELBST-INTEGRATION
Mit Hilfe von Repräsentanten (Satir, Hellinger) 2 3 stellt der Klient seine Kern-Familie auf. Die stellvertretende Wahrnehmung der Repräsentanten ermöglicht es, das Beziehungsgefüge der Familie mit seinen Verwerfungen zu rekonstruieren und erlaubt es, Generationen übergreifende Symbiosemuster bewusst zu machen, genauer zu erforschen und Lösungsstrategien quasi experimentell zu erproben.
Der Klient stellt auch einen Repräsentanten für die Selbst-Anteile auf, die zwar zu seiner „Grundausstattung“ gehören, mit denen er aber nicht verbunden ist, die ihm zur Vollständigkeit fehlen, abgekürzt für sein „Selbst“. Meist stellt der Klient dieses „Selbst“ weit entfernt von sich auf.
Zunächst wird deutlich, dass der Klient für einen oder beide – traumatisierte- Eltern fehlende Personen ersetzen wollte, dass er ihnen das Schwere abnehmen zu müsse glaubte, ja dass er mit einem oder gar beiden Eltern symbiotisch verschmolzen war. Offensichtlich war er auf dem „Boot“ des Elternteils „blinder Passagier“ oder gar „Lotse“ – mit oder ohne „Auftrag“! Das hinderte ihn daran, auf dem eigenen Boot „Kapitän“ zu sein, mit seinen eigenen Selbst-Anteilen – seinem „Bordcomputer“ – verbunden zu sein.
Der Leiter erklärt dem Klienten die Zusammenhänge und weist ihn darauf hin, dass er das Recht hat, aus dem Boot des Elternteils „auszusteigen“ und die übernommene Schicksals-Lasten wieder mit Achtung zurück zu geben. Das ist nicht immer leicht, da der Klient die Symbiosemuster als „Liebe“ miss-versteht, und das „Aussteigen“ aus dem Symbiosemuster als lieblos und undankbar – „Unbewusstes Abgrenzungsverbot“. Er konnte bisher nicht sehen, dass er dadurch an Achtung verloren hat, für den Elternteil, aber auch für sich selbst! Archaische Lösungs- und Rückgabe-Rituale können, da sie direkt auf einer unbewussten Ebene wirken, diesen Lösung-Prozess erleichtern.
Meist spürt der Klient nach diesem Lösungsschritt erstmals Verbindung und Interesse zu seinem „Selbst“. Aber er kann sich ihm noch nicht nähern.

Grenze und innerer Raum
Durch die symbiotische Verschmelzung mit dem Elternteil gab es keine Grenze. Im Kontakt zu dem Elternteil war der innere Raum, wenn überhaupt vorhanden, eingenommen von den Themen des Elternteils. Für eigene Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse, für das eigene „Selbst“ gab es buchstäblich keinen – oder zu wenig – Raum. Offensichtlich fühlt sich auch das „Selbst“ (Stellvertreter) beim Klienten erst dann „sicher“, wenn dieser den Raum schützen kann, auch und besonders gegenüber dem Elternteil!

Abgrenzungsritual
In einem Ritual „schiebt“ der Klient den Repräsentanten des Elternteils über eine symbolische Grenze, aus seinem eigenen Raum heraus. Er mobilisiert seine blockierte Aggression und setzt sie konstruktiv in der Abgrenzung ein. Meist wird hier erneut das „unbewusste Abgrenzungsverbot“ sichtbar, der Kern des Symbiosekomplexes?
Wenn es dem Klienten gelingt, sich selbst diese Abgrenzung zu erlauben, dann geschieht ein erstaunlicher Wandel: Haltung und Gesichtsausdruck wandeln sich wie mit einem Schlag, Lächeln und Würde und Gelassenheit entstehen, der Klient gewinnt seine Handlungsfähigkeit zurück. Anscheinend kommt es hier zu einer entscheidenden Richtungs-Umkehr der Aggression: statt destruktiv gegen das Selbst nun konstruktiv gegen das Gegenüber, um den inneren Raum und das eigene Selbst zu schützen.
Der verlorene „Selbstschutz-Reflex“ ist wieder installiert. Das destruktiv gewordene Aggressions-Potential wird entlastet, dadurch, dass der „konstruktive“ Kanal in der Abgrenzung wieder eröffnet ist.
Bei jedem Lösungsschritt wird der Klient gefragt, ob er dazu bereit ist. Das fordert und stärkt die Instanz in ihm, die sich entscheiden und Verantwortung übernehmen kann.

Diese Verfahrensweise hat eine hohe therapeutische Effizienz, die sich z.B. mit Hilfe des VEI/PAI Fragebogens testpsychologisch nachweisen liess.4

Zusammenfassung
Die Verwendung von Repräsentanten mit ihrer stellvertretenden Wahrnehmung erlaubt es, die prägenden Kindheitsbeziehungen zu rekonstruieren und zu erforschen. So konnte das sich gegenseitig verstärkende Zusammenwirken von Symbiosetendenzen und Selbst-Entfremdung entdeckt werden, das Symbiose zu einer Falle macht, zu dem DILEMMA führt, das Mentzos in seinem Bipolaritäts-Modell beschreibt!
Diese Sichtweise ermöglicht auch eine Lösung des DILEMMA’s, und zwar an der Wurzel!
Die Annäherung an das „Selbst“ und das Lösen aus der Symbiose und der Aggressionshemmung sind einzeln nur schwer zu bewältigen. Mit dem Konzept der SYSTEMISCHEN SELBST-INTEGRATION lassen sich alle drei Aspekte in einem einzigen Prozess lösen, das ist wahrscheinlich der „Trick“ zur Lösung dieses Dilemma’s?! Der Stellvertreter für das „Selbst“ erweist sich dabei als wichtige Ressource und gleichzeitig als Katalysator für den Prozess.
Die Betroffenen lernen, sich auch in einer Beziehung abzugrenzen, bei sich selbst zu bleiben, ohne Schuldgefühle. Freiheit und Bindung schliessen sich nicht mehr aus! So kann es in Beziehungen zu Begegnung, zu Auseinandersetzung, Veränderung und Wachstum kommen.
Die Verbindung zu abgespaltenen Selbstanteilen ermöglicht wieder eine eigene autonome Orientierung, Selbst-Organisation, Identität.

Es wird deutlich, dass neben der Nähe und Bindung an die Eltern eine weitere Kraftquelle existiert: das eigene autonome Selbst, das auch dann da ist, wenn es abgespalten wurde. Diese Ressource ist vor allem dann wesentlich, wenn die Eltern so extrem verwirrt oder gewalttätig waren, dass eine Nähe zu ihnen für den Klienten nicht mehr möglich ist. Das eröffnet auch für die Traumatherapie neue Perspektiven.5

Solange Familiensteller nach Hellinger, das Symbiosethema und die Ressource des „Selbst“ systematisch ausblenden, laufen sie Gefahr, die Spaltungs-Tendenzen ihrer traumatisierten Klienten durch Versöhnungs-Strategien noch zu verstärken, sie erneut zu traumatisieren, bis hin zur suizidalen oder psychotischen Krise.

Das hier beschriebene therapeutische Konzept bedarf weiterer Differenzierung. Es ermöglicht ein umfassenderes Verständnis des Symbiose-Komplexes und eröffnet neue Lösungs-Strategien.

Dr.med. Ernst Robert Langlotz,
Praxis für Psychiatrie und Systemtherapie,
München, 03.07.08

Literatur:

1Stavros Mentzos, Psychotherapie in der Behandlung von chronisch schizophrenen Patienten, Psychotherapie im Dialog, September 2003, S. 223-229

2Nerin, Wiliam F. (1989) Familienkonstruktion in Aktion. Virginia Satir’s Methode in der Praxis, Paderborn

3Bert Hellinger (1994) Ordnungen der Liebe, Carl-Auer-Verlag, Heidelberg.

4Ernst R. Langlotz, “Zur Theorie der Aufstellungsarbeit, zur Effizienz des Familienstellens”, Praxis der Systemaufstellung, 2005; Heft 1 (S. 91)

5Ernst R. Langlotz, “Destruktion und Autonomieentwicklung – Ein Beitrag zum Verständnis und zur Behandlung destruktiven Verhaltens”, Praxis der Systemaufstellung, 2006, Heft 1 (S. 46)