ZWEITER ANLAUF
Eine 45-jährige Frau hat bereits mehrfach durch Aufstellungen ihre verwirrende Familiensituation geklärt. Es gab Gewalterfahrung, sie war mit Mutter und Vater symbiotisch verschmolzen. Als es ihr immer noch nicht wirklich besser ging, zeigte sich schließlich noch eine extreme identifikatorische Verschmelzung mit einem Zwilling. Ich habe noch nie eine so herzzerreissende Lösung von einem Zwilling erlebt.
Danach ging es ihr viel besser.
Aber sie klagte noch über fehlenden beruflichen Erfolg. Und: sie nahm immer noch beim einkaufen ein zweites Exemplar mit, so als müsse sie ihren Zwilling versorgen. Und sie berichtete mit entwaffnender Offenheit, „dass sie es liebe, zu leiden.“
Das war der Anlass, ein zweites Mal in einer Einzelberatung die Beziehung zu ihrem Zwilling zu untersuchen und gegebenenfalls zu klären.
Es war eindeutig: der Zwilling stand dicht neben ihr, ihre Selbstanteile entfernt, hinter einem Paravent!
Im Aufstellungsverlauf wurde deutlich, dass sie noch „auf dem Boot“ des Zwillings stand, als sei es herzlos, ihn da alleine zu lassen. Sie erlebte die Welt als kalt und hart. In ihrer bemerkenswerten Offenheit kam sie darauf, dass sie buchstäblich vermieden hatte, glücklich zu sein, um es dem Zwilling nicht noch schwerer zu machen! Nach dem Motto: schau du musst nicht traurig sein, du hast nicht wirklich etwas versäumt!
Die Lösung gelang diesmal viel leichter. Sie konnte sich mit ihrem erwachsenen Selbst – das lebendig, erfolgreich und unschuldig sein kann – und ihrem kindlichen Selbst – das auch trotzig und eigensinnig sein darf – versöhnen und schliesslich verbinden. Und sie konnte ihren Zwilling endlich dahin entlassen, wo es ihm gut geht, wo er seinen Frieden findet – oder eine erneute Inkarnation!
Es war einen klassische „win-win Situation“ anstelle der vorherigen „Loose-loose-Situation“.
Es ist faszinierend und berührend, welche bizarren Vorstellungen Kinder – unbewusst oder halb bewusst – in ihrer tiefen Verbundenheit mit einem Zwilling entwickeln, Vorstellungen die sie selbst daran hindern, ihr Leben voll und ganz zu leben, so als täten sie damit ihrem verlorenen Geschwister einen grossen Gefallen!
Bisweilen gibt es auch die Vorstellung des überlebenden Zwilling, er sei Schuld am frühen Tod des anderen, so als hätte er den Tod verursacht oder wenigstens verhindern können!
Für den „gesunden Menschenverstand“ ist es kaum nachvollziehbar, dass in einer so frühen entwicklungsstufe schon so intensive Bindungen und so differenzierte Gefühle – und Schuldgefühle – entstehen können. Aber für den Lösungsprozess ist es wichtig, ihnen nachzugehen.
Wenn die Betroffenen selbst ihre Vorstellungen formulieren können, geben sie dem Therapeuten die Möglichkeit, diese Vorstellungen gemeinsam liebevoll und kritisch unter die Lupe zu nehmen und vorsichtig zurecht zu rücken.