Ihr wisst, das mich das Thema „Verlorener Zwilling“ immer wieder beschäftigt. Jetzt ist gleich zweimal dies Thema im Zusammenhang mit Schulverweigern aufgetaucht.
A Eine sehr begabte, sehr sensible 14-Jährige will einfach nicht mehr in die Schule, weil sie sich da falsch fühlt. Die sehr verständnisvollen Eltern sind ratlos. Wegen der Schulpflicht muss die junge Dame einige Wochen zur Untersuchung in die Jugendspsychiatrie(!) – ob sich da eine jugendliche Psychose anbahnt? Ohne Ergebnis. Mutter und Tochter kommen zu mir. Die Tochter erzählt, dass sie sich in dieser Welt irgendwie fremd fühlt, nur wenig Freundinnen hat und wenn, dann ist das immer sehr eng. Ich mache für sie eine Aufstellung, in der die Tochter der zunächst vermuteten Zwillingschwester gegenüber steht. Die emotionale Reaktion ist – wie üblich – sehr stark. Die Tochter verabschiedet sich von der Zwillingsschwester, und stellt sie der – anwesenden – Mutter vor. Die ist tief berührt, hatte sie sich doch immer ein drittes Kind gewünscht! Nachdem sie sich von diesem dritten Kind – das sie so vermisst hat – verabschiedet hat, kann sie ihre – lebende – Tochter innig umarmen.
B Eine 10-Jährige, „hochsensibel“, hat starke Verlustängste, klammert an die Mutter und verweigert die Schule. Sie hat immer wieder eine sehr enge Freundin, so eng, dass sich beide gleich kleiden! – wie Zwillinge. Sie versteht sich selbst nicht und ist darüber sehr unglücklich, will manchmal gar nicht leben.
Ich berichte hier diese beiden Beispiele, denn es könnte sein, dass Schulverweigern häufig etwas mit einem verlorenen Zwilling zu tun hat! Die vom Zwillingsthema Betroffenen sind sehr unglücklich, manchmal suizidal, sie verstehen selber ihre Reaktionen nicht, und ziehen sich immer mehr zurück. Das ist für die ganze Familie ein grosses Problem – und Ärzte und Jugendpsychiater wissen oft nichts von der Zwillingsthematik, sind ratlos!
Wenn Ihr ähnliche Beobachtungen gemacht habt, dann teilt mir das bitte hier mit!
ZU diesem Thema gab es einen Austausch mit Johanna D., den ich hier wiedergebe.
Anfrage Johanna: Heute habe ich eine Frage an Dich bezüglich der Zwillingsaufstellung mit dem jungen Mädchen mit der Schulangst. (Supervision im Februar)
Hast Du da schon eine Rückmeldung, ob sie nach der Aufstellung in die Schule gehen konnte.
Ich arbeite ja jetzt in einem Haus für Kinder und Jugendliche und da gibt es ein 14-jähriges Mädchen, das sich oft nicht in der Lage fühlt, in die Schule zu gehen. Sie hat sich eine Scheinwelt aufgebaut und hat auch depressive Verstimmungen. Für mich sieht es nach verlorenem Zwilling aus, deshalb meine Frage.
Antwort Ero: ich hatte ja zwei Mädchen mit dem Thema Schulverweigern und Hinweisen für verlorenen Zwilling. Stell dir vor, die beiden jungen Mädchen konnten die Zwillingsaufstellung nicht als Lösung annehmen. Ich bin ratlos. Es fühlte sich alles so stimmig an.
Auch die Eltern von beiden Mädchen sind sehr reserviert. Sie sind in beiden Fällen sehr besorgt um ihre Tochter und nehmen – vielleicht zuviel? – Rücksicht auf ihr Kind und dessen Vorstellungen.
Johanna: schade, dass sie es nicht annehmen konnten. Diese Gefahr sehe ich auch bei dem Mädchen, das ich betreue. ihre Scheinwelt ist ihr Halt, ihre Überlebensstrategie. Die kann sie momentan nicht aufgeben, sie hat sonst nichts und auch keine Freundinnen. Ihr erwachsenes Selbst wird ihr da noch keine Alternative sein. Und ohne Einverständnis der Mutter und auch der Therapeuten kann ich da zur Zeit nichts machen.
Gut, dass ich mich durch Deine Arbeit selbst gut abgrenzen kann. Die Arbeit mit den Kindern ist desillusionierend, vor allem weil die Ursachen meist bei den Eltern liegen und diese nicht sehr offen für eine Veränderung sind.
Ero: ich glaube, das siehst du sehr richtig, die Scheinwelt als Überlebensstrategie – allerdings mit der Gefahr des Entgleisens in eine Psychose. Und für dich der notwendige Abschied von Illusionen… Es sind vielleicht die kleinen unauffälligen Interventionen und das Vorbild der eigenen Abgrenzung, was in deinem Arbeitsfeld etwas bewirken kann. Das solltest du nicht unterschätzen.
Lieber Dr. Langlotz,
dazu kann ich aus meinen eigenen Erfahrungen – hochsensibel und alleingeborenes Mehrlingskind, im Rückblick mit 50 Jahren, einiges sagen, denn:
Vor rund 3 Jahren bin ich mit den Zusammenhängen meiner besonderen Eigenschaften unter dem Stichwort Hochsensibilität vertraut geworden.
Vor etwa 1 Jahr habe ich in Ihrem Buch zum ersten Mal vom Zwillings-Thema gehört, und was Sie dazu schreiben, hat ins Schwarze getroffen – inzwischen habe ich in Baden eine Aufstellung dazu machen können.
Meine Gedanken aus meinen eigenen Schulerfahrungen …
Das etablierte Schulsystem hat schwere Mängel im Umgang mit den Kindern, für alle – und Hochsensible leiden darunter noch wesentlich mehr.
Im Rückblick eigener Therapie-Gespräche begann ich mich zu wundern, dass ich nicht eines Tages im Bett liegen blieb und mich weigerte zur Schule zu gehen – das mag mit mir zu eigen gewordenem Leistungsdenken in Verbindung mit Hochbegabung zu tun haben, mit dem Bewusstsein dass so ein Verhalten meine Eltern total überfordert hätte, oder einfach mit Angst.
Hochsensibilität ist Veranlagung und Gabe, und es gäbe Schulansätze, die dieser Veranlagung besser gerecht werden, den Kindern mehr Selbstregulation und Rückzug einräumen …
in Österreich gibt es rechtlich sogar die Möglichkeit eines häuslichen Unterrichts (in Deutschland vielleicht auch?).
Das bedeutet Herausforderungen für die Eltern, und es gibt leider wenig Hilfestellung für sie.
Immerhin ist ein Ratgeber speziell für Eltern hochsensibler Kinder, im Zusammenhang mit Schule, Begleitung … erschienen:
Komm raus, ich seh dich! – von Britta Karres.
Zur Entscheidungssituation zwischen den Kinder-Vorstellungen und dem was das Umfeld vorgibt / erwartet, hat übrigens Jasper Juul – der von mir favorisierte Erziehungsberater – in einem seiner Bücher ein Beispiel seines eigenen Enkelsohns geschildert, der nicht mehr in den Kindergarten gehen will. Nachdem er das Kind fragt “was ist passiert?” und noch ein Gespräch mit der Pädagogin über ihre Einschätzung und ihr beabsichtigtes Vorgehen führt, entscheidet er – aus seiner fachlichen Kompetenz, ein Zusammentreffen das der Entscheidung eine andre Bedeutung verleiht – dass ein Besuch dieses Kindergartens nicht dem Wohl des Kindes entspricht.
Herausforderungen kommen im Leben später noch genug, das ist Teil des Lebens, und mit einer im Heranwachsen dank einer verständnisvoller Begleitung gefestigten Persönlichkeit haben Menschen umso größere Chancen, daran zu wachsen.
Das wünsche ich allen Jugendlichen, und hier insbesondere den hochsensiblen Jugendlichen, über die Sie hier schreiben.