Gefahr des Machen
Gerade dann, wenn eine Therapie so wirksam ist, wie das Familienstellen, besteht die Gefahr, dass der Therapeut sich aufbläht, ins Machen kommt. Verstärkt wird diese Gefahr durch Erwartungen des Klienten: „Ich habe schon so viel versucht, bin so oft enttäuscht worden. Sie sind meine letzte Hoffnung!“
„Wenn so viele ihnen nicht helfen konnten, kann ich ihnen wahrscheinlich auch nicht helfen!“ Diese Antwort unterstützt den Therapeuten – und den Klienten – wieder auf den Boden zu kommen, bei sich selbst zu bleiben.
Gerade gegenüber Klienten, die durch Suizid oder Psychose gefährdet sind, hilft es mir, bei mir zu bleiben, wenn ich mich innerlich vor ihrem Schicksal verneige, es nicht bewerte. Wenn ich ihm zustimme, auch wenn es den Klienten in die Suizidalität oder in die Psychose führt! Wenn es mir gelingt, auch in diesen „schlimmen“ Reaktionen eine tiefe Loyalität des Klienten mit den Schicksalen seiner Familie zu sehen.
Natürlich würde ich eingreifen, wenn ein Klienten versuchen würde, sich umzubringen! Aber ich würde es tun in dem Bewusstsein, dass ich es letztlich nicht verhindern kann, wenn er es wirklich will.
Ohnmacht und Geführtwerden
Ich stimme damit auch meiner eigenen Ohnmacht als Therapeut zu. Und dieses Zustimmen und diese Absichtslosigkeit erst machen die Erfahrung möglich, dass ich bei der Arbeit geführt werde.
„Aber du bietest doch den Klienten Hilfe an, fragst sie nach ihrem Anliegen, nimmst Honorar für deine Arbeit!!“ „Hast Du da nicht eine Absicht?“
Mein Verständnis von systemischer Therapie ist, dass ich dem Klienten meine Wahrnehmung zur Verfügung stelle, ihm seine „Störfelder“ sichtbar und bewusst mache, seine symbiotischen Beziehungsmuster und Blockaden, und ihm Lösungen vorschlage, die sich in anderen Fällen bewährt haben. Danach ziehe ich mich zurück und vertraue seinem Unbewusstem, dass es das annimmt was es brauchen kann. Ich bin bereit ihn weiter zu begleiten, aber ich bin nicht für seinen Prozess verantwortlich.
Scheitern – als Selbstheilungsversuch?
Mein systemisches Verständnis, meine Achtung vor der Autonomie und der Selbstregulation des Klienten hilft mir, auch im „pathologischen“ Verhalten Reste einer Selbstregulation, einer Überlebensstrategie, eines Selbstheilungsversuches zu sehen, selbst wenn sich daraus ein Teufelskreis entwickelt hat, im Sinne einer destruktiven Rückkoppelung.
Meine Interventionen versuchen nicht, gegen die systemische Selbstregulation des Klienten zu arbeiten, das wäre auch vergebens. Im Gegenteil, ich versuche, Blockaden oder Rückkoppelungsphaenomene zu erkennen und zu lösen, so dass die Selbstregulation wieder greifen kann. Ich unterstütze die autonome Wahrnehmung des Klienten, damit er sich wieder orientieren und selbst organisieren kann, sich von „seinem falschen Selbst – auch wenn es ihm das Überleben ermöglichte – verabschieden, zu seinem wahren Selbst finden kann.
Ich arbeite nicht gegen die Bewegung seines Schicksals, sondern versuche diese Bewegung zu erfassen und in einem inneren Prozess vorweg zu nehmen. Wenn z. B. ein Klienten, der viel Erfolg hatte, dabei ist, zu scheitern, im Privatleben, im Beruf, wenn er dabei ist, zu stolpern und zu Boden zu stürzen, dann kann das als Selbstheilungsversuch verstanden werden. Es kann z. B. sein, dass dieser Klient den eigenen Vater verachtet hat, ihm vorgeworfen hat schwach und erfolglos zu sein.
Dadurch stellte er sich über den Vater, verlor seinen Platz als Sohn, hat sich selbst abgeschnitten vom Vater, die Achtung für den Vater – und für sich selbst verloren. Das Scheitern kann dann als unbewusst gesteuerter Selbstheilungsversuch verstanden werden. Die Erfahrung des eigenen Scheiterns könnte ihn mit dem Vater versöhnen – „ich bin wie du, ich bin gar nicht besser als du“ – und ihn wieder mit seinen Vater verbinden, ihn wieder die Achtung vor dem Vater und für sich selbst zurückgeben.
Die gegenteilige Haltung jedoch: „kein Wunder, wenn ich so einen Versager als Vater hatte“, verstärkt die Bewegung des Scheiterns, lässt die Chance für eine Versöhnung ungenützt.
Lösung durch Gehen mit der Bewegung
Wenn ich als systemischer Therapeut eine solche Bewegung des Scheiterns mit diesem dynamischen Hintergrund wahrnehme, mache ich das dem Klienten bewusst und zeige ihm, dass das zu Boden stürzen auch die Lösung sein kann!
Die tiefere Ursache für die Verachtung des Vaters ist meistens eine fehlende Abgrenzung im Sinne einer „Verschmelzung“. Die Verachtung ist dann so etwas wie ein verzweifelter aber frustraner Versuch einer Abgrenzung. Ich schlage dem Klienten vor, zunächst die Verschmelzung mit dem Vater zu lösen. Dann lass ich ihm vor dem Vater auf den Boden legen und der Wirkung folgender Sätze nach spüren: „du bist mein Vater, ich bin dein Sohn. Du bist für mich der richtige Vater. Mein Leben kommt von dir, es ist das große Geheimnis, dass ich weitergeben darf an meine Kinder. Ich habe über dich geurteilt, so als hätte ich das Recht dazu, als wäre ich besser als du. Dadurch habe ich dir und mir die Ehre und die Kraft genommen. Meine Seele fühlt sich dafür schuldig, als dürfe ich selbst keinen Erfolg mehr haben.“
Der Stellvertreter des Vaters spürt, ob er sich vom Klienten geachtet fühlt, ob er ihm noch böse ist. Wenn so der Vater wie der Vater und der Sohn wieder Sohn sein kann, ist es unvermeidbar, dass die Achtung für sich und den Vater zurück kommt, dann kann auch die Liebe wieder fließen.
Wenn der Klient diese innere Bewegung des „auf den Bodengehens“ vorwegnimmt, ist anscheinend die äußere Bewegung des Scheiterns nicht mehr erforderlich.
Eine solche Therapie ist systemisch, weil sie nicht gegen die Selbstregulation arbeitet, sondern sie unterstützt.
Dr. med. Ernst Robert Langlotz
München, 15.11.2006 (Erstfassung)